Gedenken zum 83. Jahrestag der Pogromnacht

Gedenken zum 83. Jahrestag der Pogromnacht.
© Landeshauptstadt Potsdam/Jan Brunzlow
Gedenken zum 83. Jahrestag der Pogromnacht. Foto: Landeshauptstadt Potsdam/Jan Brunzlow

Anlässlich des 83. Jahrestages der Reichspogromnacht luden die Landeshauptstadt Potsdam, die jüdische Gemeinde, die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen Potsdam sowie die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit zu einer Gedenkveranstaltung ein. Am Standort der ehemaligen Synagoge neben der Hauptpost am Platz der Einheit sprach Oberbürgermeister Mike Schubert. Durch die Veranstaltung führten Rabbiner Ariel Kirzon und Stadtkirchenpfarrer Dr. Simon Kuntze. Auch Ursula Nonnemacher, Ministerin für Soziales, Gesundheit, Integration und Verbraucherschutz des Landes Brandenburg und der Vorsitzende der Stadtverordnetenversammlung der Landeshauptstadt Potsdam, Pete Heuer, nahmen an der Gedenkveranstaltung teil. In diesem Jahr wurde im Besonderen an die Mädchen und Jungen des jüdischen Landschulheimes in Caputh sowie die Lehrerinnen und Lehrern um Gertrud Feiertag erinnert. Schülerinnen und Schüler des Bertha-von-Suttner Gymnasiums trugen Briefe eines Jungen aus dem Landschulheim vor und verlasen die Namen der vertriebenen Jungen und Mädchen des Caputher Landschulheims.

 

Gedenkrede von Oberbürgermeister Mike Schubert

Sehr geehrter Herr Rabbiner Kirzon,
sehr geehrter Herr Dr. Kuntze,
sehr geehrte Landtagsabgeordnete und Stadtverordnete, meine Damen und Herren, liebe Potsdamerinnen und Potsdamer,

gestern konnte ich dabei sein, wie der Grundstein für die Neue Synagoge in der Schloßstraße gelegt wurde. Dieser Grundstein ist ein Meilenstein für die jüdischen Gemeinden unserer Stadt. Endlich konnte der Stein gelegt werden, der das Fundament für die neue jüdische Versammlungsstätte bildet, um die so lange gerungen und die so lange herbeigesehnt wurde.
Die Grundsteinlegung ist ein Meilenstein für die Zukunft für unsere jüdischen Gemeinden, die einen wesentlichen Teil der religiösen und kulturellen Vielfalt Potsdams ausmachen.
Ich bin froh und dankbar, dass wir diesen so wichtigen Grundstein für den Synagogenneubau und für neues, wachsendes jüdisches Leben gelegt haben.

Heute, am 9. November, schauen wir zurück in die Vergangenheit. Jedes Jahr versammeln wir uns an diesem Ort. Wir erinnern uns gemeinsam an die schreckliche Nacht des 9. November 1938, als die staatlich gelenkten Ausschreitungen gegen jüdische Mitbürger, jüdische Geschäfte, gegen Synagogen und Bethäuser, aber eben auch gegen solche Einrichtungen wie das jüdische Landschulheim in Caputh eine Welle von Gewalt über das ganze Land zogen.

1.400 Synagogen gingen in Flammen auf oder wurden schwer beschädigt. Tausende jüdische Geschäfte wurden zerstört. Schaufenster eingeschlagen. Frauen, Männer und Kinder bedrängt und verfolgt. Ab dem 10. November trieben die Nationalsozialisten landesweit annähernd 30.000 Mitbürger jüdischer Herkunft in Gefängnisse und Konzentrationslager. Sie wurden gedemütigt, misshandelt, in den Tod getrieben, ihr Vermögen konfisziert.

Die reichsweiten Pogrome erreichten auch unsere Stadt. Die Synagoge wurde verwüstet, die Thorarolle in Stücke zerrissen. Die Schergen der Nationalsozialisten raubten der jüdischen Gemeinde damit ihr Allerheiligstes. Am Tag nach der Schändung schauten viele Bürgerinnen und Bürger neugierig die zerstörte Synagoge an, mehr noch beschämt weg. Ein breiter Aufschrei der Empörung über das Geschehene blieb aus.

Die Verfolgung der jüdischen Mitbürger hatte einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Ein Einzelereignis war der 9. November 1938 nicht. Seit 1933 schürten die Nationalsozilisten gezielt das Feuer des Antisemitismus, das schon viele Jahrzehnte, sogar Jahrhunderte zuvor loderte und in Pogromen und Gewaltexzessen entbrannte. Aber die Nationalsozialisten schufen eine systematische Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung mit gesetzlicher Grundlage. Dieser rassistisch motivierte Antisemitismus sollte in den Zivilisationsbruch der Shoa münden.

Meine Damen und Herren, mit jedem Jahr, wenn wir auf die Reichspogromnacht und die nationalsozialistische Diktatur zurückschauen, entfernen wir uns weiter weg von diesem dunkelsten Kapitel unserer Geschichte. Die Stimmen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen verstummen. Die letzten Täterinnen und Täter können kaum mehr zur Verantwortung gezogen werden. Und doch ist die verbrecherische Geschichte nicht abgeschlossen, beendet und vergessen. Sie ist es nicht, weil auch heute großes Unrecht geschieht. Ich erinnere an die furchtbaren Angriffe und Attacken auf Synagogen und Menschen, die eine Kippa tragen. In Halle, Hamburg, Ulm und auch in Potsdam.

Als Gesellschaft sind wir mehr denn je gefragt, uns klar und deutlich gegen jeglichen neuen Rechtsextremismus und Antisemitismus zu bekennen. Dazu gehört auch, sich gegen schleichende Relativierungen zu stellen. Mit einem sprichwörtlichen „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ soll mit einer vermeintlichen Meinungsfreiheit – auch in unseren Parlamenten – der Versuch unternommen, Rassismus, Abwertungen von Minderheiten und Antisemitismus zu normalisieren. Ich sage darauf klar und deutlich: Nein, das wird man eben nicht sagen dürfen, dass unsere Grundwerte einer demokratischen Verfasstheit zu relativieren sind.

Meine Damen und Herren, ich möchte an dieser Stelle bewusst vermeiden, floskelhaft Lehren aus der Vergangenheit ziehen zu wollen. Dazu sind mir die Opfer des Holocaust zu wichtig. Und mir ist bewusst, dass die Überlebenden und ihre Nachkommen den heutigen Ablehnungen und der latenten Gewaltbereitschaft ausgesetzt sind. Lassen Sie uns also nicht vorschnell und unreflektiert eine „Ausländerfeindlichkeit“ und einen „Fremdenhass“ anprangern, wo wir uns eigentlich fragen müssen: Wer ist denn überhaupt und warum ein Ausländer? Wer ist denn ein Fremder in unserem Land? Was tun wir konkret für Integration, kulturellen und religiösen Austausch? Und warum lassen wir die Konstruktion eines wesenhaften Eigenen in Abgrenzung zu einem Anderen zu?

Aus der Verantwortung der Vergangenheit haben wir Sorge zu tragen für neue Formen des solidarischen Zusammenlebens. Wir müssen eine Kultur des respektvollen Umgangs und des öffentlichen Austauschs schaffen, in denen die Realität der Migrationsgesellschaft zum Ausdruck kommt. Wir brauchen Integrationsvereinbarungen, die wirklich gelebt werden und Teilhabe ermöglichen. Dazu sind im Besonderen die Städte und gute Bündnisse gefragt. Nur so – davon bin ich überzeugt – kann es gelingen, die immer stärker werdenden antipluralistischen und antidemokratischen Strömungen in unserem Land zu unterbinden. Lassen Sie uns weiter gemeinsam starke Fundamente für die Demokratie und Freiheit errichten, bestehend aus Steinen gesellschaftlicher, kultureller und religiöser Vielfalt in unserer Stadt.