Kolumne der Woche: Die Lehren einer Nacht

Oberbürgermeister Jann Jakobs
© Oberbürgermeister Jann Jakobs
Oberbürgermeister Jann Jakobs

8. November 2015

Liebe Potsdamerinnen und Potsdamer,

wir gedachten am Montag der Pogromnacht vom 9. November 1938. Der Tag gehört zu den dunkelsten Kapiteln der deutschen Geschichte. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 gingen im damaligen Deutschen Reich mehr als 1400 Synagogen, Betstuben und Versammlungsräume in Flammen auf oder wurden mit brachialer Gewalt verwüstet und geplündert. Tausende jüdische Geschäfte, Wohnungen und Friedhöfe wurden zudem zerstört. Ab dem 10. November trieben die Nationalsozialisten landesweit mehr als 30.000 nach ihrer besonderen Vermögenslage ausgesuchte Juden in die Konzentrationslager. Wie viele von ihnen nicht mehr lebend herauskamen, ist unbekannt.

Das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte, verübt von Deutschen an Deutschen und anderen Völkern, dieses Verbrechen warf an jenem Tag seine Schatten voraus und die NS-Diktatur zeigte ihre ganze Abscheulichkeit erstmals wirklich in dieser Nacht vom 9. auf den 10. November 1938. Natürlich gab es schon vorher Unterdrückung, Ausgrenzung und Terror gegen Juden und alle, die nicht ins Weltbild der Nazis passten, natürlich brannten schon 1933 die Bücher. Doch jetzt brannten Glaubenshäuser, bald würden Menschen brennen. 

Die Bilder der zerstörten und geschändeten Synagogen haben sich in unser kollektives Gedächtnis eingeprägt. Eine gaffende, schaulustige, neugierige und unbeteiligt wirkende Menschenmenge steht vis-a-vis der zerstörten Gotteshäuser. So auch in Potsdam, wo der Fotograf Hans Weber dieses unerhörte Ereignis festhielt.

Und hier müssen wir ansetzen, wenn wir die Lehren aus diesem schrecklichen Tag ziehen. Denn zu Zeiten von brennenden Flüchtlingsheimen und Übergriffen auf Asylbewerber lehrt und mahnt uns dieser 9. November, dem Schweigen, Wegschauen, Ignorieren, der Gleichgültigkeit jeden Tag aufs Neue mit klaren Worten, mit Hinschauen, mit Position beziehen, mit Einstehen zu begegnen. Um auf Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit ein klares und lautes Nein zu entgegnen. Um unsere grundlegenden Werte der Demokratie, der Vielfalt und Achtung der unteilbaren Menschenrechte zu wahren. Um Mitmenschlichkeit zu leben.

Wohin fehlende Mitmenschlichkeit führen kann, haben nicht zuletzt die beiden Weltkriege des vergangenen Jahrhunderts bewiesen. An die Opfer dieser Kriege und aller Kriege seither gedenken wir am kommenden Sonntag wieder am Volkstrauertag traditionell auf dem Sowjetischen Ehrenfriedhof. Wir erinnern uns dabei an das unermessliche Leid, das Kriege und Gewalt gestern und heute über so viele Menschen in unserem Land und in vielen anderen Ländern gebracht haben.

Doch über Jahrzehnte waren Kriege für uns Deutsche nur lang vergangene Geschichten, von denen die Älteren erzählten. Mit den Kriegsflüchtlingen, die wir jetzt in Potsdam willkommen heißen, ist der Krieg wieder bei uns angekommen. Was diese Menschen erlebt haben, das waren Terrorismus, Tod und Vertreibung. Ich kann nur an alle Potsdamerinnen und Potsdamer appellieren, auf diese Menschen zuzugehen, ihnen zuzuhören und zur Seite zu stehen. Besonders dann, wenn wieder die Lauten, die Gewalttätigen, die Brandstifter auf den Plan treten und diese Menschen bedrohen und verfolgen. Dies niemals wieder zuzulassen, das ist für mich die Lehre der Nacht vom November 1938.  

Ihr

Jann Jakobs