Gefühl der Fassungslosigkeit

27. Januar 2013 

Liebe Potsdamerinnen und Potsdamer,

das "Gefühl der Fassungslosigkeit" stammt aus der Feder des Historikers Saul Friedländer. Es ist das bestimmende Gefühl, das uns alle eint angesichts des unermesslichen Grauens des Holocausts, der versuchten Auslöschung, der Shoa. Denn der 27. Januar ist der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee. Und wir nehmen ihn auch dieses Jahr wieder zum Anlass, den Millionen Opfern der NS-Zeit zu gedenken.

Ich freue mich, dass es gelungen ist, zusammen mit den Fraktionen der Stadtverordnetenversammlung einen gemeinsamen Ort zu finden, an dem wir diesem Ereignis am heutigen Sonntag gedenken können.

Im Dezember 2012 hatte die Landeshauptstadt Potsdam zu einer Gesprächsrunde im Vorfeld des Internationalen Holocaust-Gedenktages eingeladen. Dabei wurden wir beauftragt, eine eigene Veranstaltung am Platz der Einheit vor der alten Synagoge zu organisieren. Ich habe diesen Auftrag gerne angenommen, weil es ein würdiger Ort ist und weil alle Potsdamerinnen und Potsdamer die Gelegenheit haben, daran teilzunehmen. Anschließend gehe ich zur Veranstaltung des Fördergemeinschaft in die Gedenkstätte Lindenstraße 54, die als authentischer Ort der Verfolgung und Unterdrückung für eine Gedenkveranstaltung prädestiniert ist.

Liebe Potsdamerinnen und Potsdamer, es ist mir wichtig festzustellen: Potsdam stellt sich seiner Geschichte. Wir werden den Tag von Potsdam am 21. März mit einer Reihe von Veranstaltungen auf unsere Weise gedenken und wir werden alles tun, damit nicht der rechte Mob diesen Tag für sich und seine fremdenfeindlichen, offen antisemitischen Ziele benutzen kann.

Doch an dieser Stelle möchte ich mich weniger mit den Tätern, sondern mit den Opfern auseinandersetzen. Hunderttausende wurden in die Lager transportiert, auf zynischste Weise selektiert und viele von ihnen direkt an der Rampe in die Gaskammern geschickt, wo sie einen unvorstellbar schrecklichen Tod erlitten. Kinder wurden ihren Eltern entrissen, Familien und Liebende wurden für immer getrennt. Insgesamt starben durch den Holocaust sechs Millionen Juden, auch Sinti und Roma, Kriegsgefangene, Widerstandskämpfer, Homosexuelle und Behinderte wurden geschunden und ermordet. Sechs Millionen - eine unvorstellbare Zahl. ein Datum wie der Holocaust-Gedenktag zwar ein bedeutender Anlass, doch Erinnerungsarbeit ist ein Prozess und lässt sich nicht nur an Jahrestagen ableisten. Das würde zu kurz greifen.

Darum ist die Gedenkstätte Lindenstraße auch ein so wichtiger Teil dieser täglichen Erinnerungsarbeit. Denn in der Gedenkstätte erinnern wir umfassend an die politische Verfolgung in gleich zwei deutschen Diktaturen. Im Mai dieses Jahres werden wir mit dem Ausstellungsmodul über die NS-Zeit die wichtige Lücke in der Dokumentation und Auseinandersetzung mit der Geschichte dieses authentischen Ortes schließen. Die Aufarbeitung und Weitergabe authentischer Erfahrungen ist unverzichtbar für eine aktive, lebendige Erinnerungskultur. Sonst blieben das Wissen um den Völkermord abstrakt und der millionenfache Tod der Opfer anonym.

Deshalb bin ich auch besonders berührt, wenn junge Potsdamerinnen und Potsdamer aktive Erinnerungsarbeit leisten und sich mit den Menschen hinter all den Millionenzahlen befassen. Ich meine das Projekt Stolpersteine. Mit diesen in das Pflaster eingelassenen kubischen Gedenksteinen erinnern Potsdamer Schülerinnen und Schüler an das individuelle Schicksal einzelner Potsdamer, die im Nationalsozialismus ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid getrieben wurden. Somit geben Sie dem Unfassbaren ein Gesicht und reißen die Opfer aus Anonymität und Vergessen.

Ich sage es ganz klar: Ich bin stolz auf diese Jugendlichen! Und ich wünsche mir sehr, dass viele ihrem Beispiel nacheifern!

Ihr

Jann Jakobs


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