Die Pogromnacht und das andere Potsdam

Liebe Potsdamerinnen und Potsdamer,

74 Jahre ist es her, da zeigte der Nationalsozialismus sein wahres, zutiefst hässliches Gesicht. In der Nacht vom 9. auf den 10. November brannten nicht mehr nur Bücher - jetzt brannten Gotteshäuser. Überall in Deutschland gingen Synagogen in Flammen auf. Ganze Bevölkerungsgruppen waren von Vertreibung und Vernichtung bedroht. Weil sie Juden waren. Weil sie nicht so dachten, glaubten und beteten, wie das die Machthaber wollten und befahlen. Weil sie einander halfen und ihren Glauben mehr achteten als eine einzelne Regierung und einen einzelnen Staat.

Als Oberbürgermeister einer Stadt, die Jahrhunderte zuvor Flüchtlinge aufgenommen und ein kurfürstliches Edikt für Religions- und Glaubensfreiheit erhielt, die ihren Wohlstand zu großen Teilen der vielfachen Zuwanderung verdankt, muss ich gestehen, dass mir auch nach so langer Zeit immer noch die Worte fehlen. Zu tief ist meine Trauer und zu unermesslich meine Scham. Denn auch in Potsdam brannte die Synagoge am Wilhelmplatz, wurde das Gotteshaus entweiht und die Einrichtung zerstört. Fünf Jahre später deportierten die Nationalsozialisten den letzten in Potsdam lebenden Juden Wilhelm Kann nach Theresienstadt und ermordeten ihn.

Doch zum Glück gab es auch das andere Potsdam. Ein Potsdam von aufrechten Bürgerinnen und Bürgern, die gegen die Nazi-Tyrannei mal offen, mal verdeckt ankämpften, die jüdische Mitmenschen beschützten und die heute völlig zurecht zu den "Gerechten der Völker" zählen, ein von der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem vergebener Ehrentitel.

Eine solche Frau war die Potsdamerin Carola Müller. Sie erhielt den Titel im Jahr 1979, weil sie ihre Freunde - das jüdische Ehepaar Hagen aus Berlin - während eines von der Gestapo über sie verhängten Hausarrests mit Lebensmitteln aus ihrer eigenen Ration versorgte und so das Ehepaar vor dem Verhungern rettete. Wegen ihrer Hilfe für Louis und Victoria Hagen wurde Carola Müller selbst verhaftet und im berüchtigten Gestapo-Gefängnis in der Prinz-Albrecht-Straße verhört. Nur durch das couragierte Einschreiten ihrer Mutter ließ die Gestapo Carola Müller sieben Tage nach ihrer Verhaftung wieder frei.

Es ist mir daher eine besondere Freude, wenn wir am 9. November direkt vor der Gedenkveranstaltung zur Pogromnacht feierlich eine Gedenktafel für Carola Müller in der Friedrich-Ebert-Straße 105-106 anbringen werden.

Dieses andere Potsdam, das gibt es auch heute noch. Da stellen sich Mitte September Tausende von Bürgerinnen dem braunen Mob entgegen und sorgen dafür, dass Potsdam keine Anlaufstelle für Nazis wird. Da kümmern sich Schülerinnen Potsdamer Schulen liebevoll um Stolpersteine zur Erinnerung an jüdische Mitbürger, die dem Rassenwahn zum Opfer fielen. Und da unterstützen viele Potsdamerinnen und Potsdamer, zahlreiche Institutionen wie Verbände, Kammern, Gewerkschaften und Kirchenorganisationen das Bündnis "Potsdam bekennt Farbe".

Potsdam steht geeint gegen rechten Terror. Seien Sie deshalb herzlich eingeladen, wenn wir am kommenden Freitag ab 13 Uhr der Opfer der Reichspogromnacht am Ort der ehemaligen Synagoge am Platz der Einheit erinnern. Denn das andere Potsdam lebt!


Ihr

Jann Jakobs


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