Olympia mit neuem Gesicht

Paris 2024 verabschiedet einige einst heilige Rituale

Text: Horst Sperfeld

„Lasst uns träumen“, und „wir sind nicht allein“, sagte IOC-Präsident Thomas Bach in seiner Eröffnungsansprache für die Sommerspiele der XXXIII. Olympiade von 2024 in Paris und zitierte dabei sinngemäß die als naiv verschriene Friedenshymne „Imagine“ von John Lennon, die kurz zuvor einmal mehr bei einer olympischen Auftaktfeier erklungen war. Bach rief damit die Teilnehmer, die Regierenden und die Menschen in aller Welt dazu auf, wenigstens für ein paar Tage Streit, Hass, Zerstörung und Blutvergießen beiseite zu schieben. Dass es ein kaum erfüllbarer Wunsch war und ist, wusste der einstige deutsche Fecht-Olympiasieger eigentlich selbst und es bestätigte sich leider gleichzeitig an mehreren Orten der Welt. 

Es hätte so schön sein können! Oder auch nicht. Die befragten Bürger hatten jedenfalls etwas dagegen. 2024 sollte aus deutscher Sicht das Mega-Sportjahr vor heimischer Kulisse werden. Im Januar die Europameisterschaft der Handballer, im Juni und Juli die Europameisterschaft der Fußballer, im Juli/August die Olympischen Sommerspiele in Hamburg und schließlich die Paralympics im August und September an gleicher Stelle. Alles in Deutschland also, Wahnsinn! 

Genau, Wahnsinn wäre das gewesen, zu viel bombastischer Sport, sogar für ein so reiches Land. Auch für das ohnehin angeschlagene Image Deutschlands in der Welt hätte es wohl eher Miese gebracht. Zum Glück hatten die Bürger der großen Hansestadt an der Elbe etwas dagegen und votierten bei einem Referendum gegen Olympia in ihrer Stadt. Hamburg war bereits vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) als einer der fünf Bewerberstädte für die Sommerspiele 2024 bestätigt, zog nach jener Volksbefragung vom 29. November 2015 seine Kandidatur allerdings zurück. Schade! Oder eben auch nicht, darüber lässt sich nicht mehr fabulieren. 

Auch die Mitbewerber Rom, Budapest und Los Angeles meldeten sich 2016 und 2017 wieder ab, so dass Paris als einziger Kandidat auf der IOC-Vollversammlung am 13. September 2017 in Lima (Peru) den Zuschlag erhielt. Kurzzeitig war noch diskutiert worden, ob Paris und Los Angeles gemeinsam als Ausrichter fungieren könnten, was schon wegen der Entfernung zwischen beiden Städten nicht nur ein Novum, sondern auch eine außergewöhnliche Herausforderung und wegen der Reiserei ein Schlag ins Gesicht der Klimaschutzbewegung geworden wäre. Der Plan wurde also verworfen. Er hätte selbst dem Sinn Olympias von einem Treffen der Sportjugend aus aller Welt an mehr oder weniger einem Ort widersprochen. Doch die Ideale der Olympia-Erfinder, die am Ende des 19. Jahrhunderts die Spiele aus der Antike in die Neuzeit geholt hatten, zählen ohnehin immer weniger. Paris, wo alles gedanklich einmal anfing, durfte nun nach 1900 und 1924 wie zuvor nur London (1908, 1948 und 2012) zum dritten Male Olympia-Gastgeber werden.

Wer sich am Ende des ersten Viertels des 21. Jahrhunderts auf so ein Großereignis einlässt, braucht trotz seiner herausfordernden olympischen Geschichte besonderen Mut. Um das Veranstaltungsjahr 2024 brodelt es in der Welt zum Teil recht grausig. In Europa herrscht Krieg, der die nach dem II. Weltkrieg nie beigelegten Spannungen zwischen dem Westen und dem Osten des vermeintlich modernsten Erdteils wieder in blutige Auseinandersetzung umschlagen ließ. Russland griff im Februar 2022 mit voller Wucht seinen einstigen Partner aus sowjetischen Zeiten, die Ukraine, an und setzte sein zerstörerisches Werk auch zwei Jahre später unvermindert fort. Die ehemalige Sowjetrepublik Ukraine, die 1991 wieder ein selbstständiger Staat geworden war, hatte sich politisch zu sehr in Richtung Westen orientiert, was den Russen in Moskau um den sich wie ein Zar fühlenden Präsidenten Wladimir Putin gegen den Strich ging. Sie fühlen sich eingeengt, wollen das riesige Land als Bollwerk gegen den Westen Europas und der Welt wieder zurück holen oder vernichten.

Im Nahen Osten herrscht ebenfalls erbitterter Krieg. Die palästinensische Terror-Organisation Hamas hatte am 7. Oktober 2023 ein Massaker an israelischen Siedlern mit 1139 Opfern verübt und mehrere hundert Geisel verschleppt, woraufhin Israel den Gaza-Streifen mit einem grausamen Krieg überzog, um die dort ansässige Hamas für immer auszulöschen. Auch diese unselige Auseinandersetzung brachte zigtausenden Menschen Tod und Vertreibung und droht sich zu einem Flächenbrand und damit zu einem Existenzkampf von Israel und Palästina zu entwickeln. Selbst während der Olympischen Spiele fielen die Raketen und Bomben, glaubten beide Seiten, sich jeweils für Anschläge rächen zu müssen. Zeitgleich gibt es in weiteren Staaten Afrikas blutige Auseinandersetzungen zwischen Regierungen und Rebellen, herrscht Dürre und Hungersnot. Zu allem Übel werden auch die Auswirkungen der Klimaerwärmung mit nie dagewesenen Naturkatastrophen immer krasser. All das hat Flüchtlingsströme aus Süd und Ost in Richtung Westeuropa zur Folge, so dass sich auch dort ein Drang wieder zu nationalistischen Alleingängen, ein politischer Rechtsruck vollzieht. Nicht zuletzt schwächelt die Führung der USA, wo eine Wahl bevorsteht, die sich ebenso auf die Stabilität der politischen Verhältnisse auf dem gesamten Globus auswirken wird. Zudem bildete sich ein Staatenbund aus allen Teilen der Welt, der sich gegen den über Jahrhunderte dominierenden, hochentwickelten Westen und die USA wendet. 

Olympia in Paris, wo der zentralistisch regierende Präsident Emmanuel Macron für die Zeit der Olympischen Spiele die gerade abgewählte Regierung kurzerhand gegen alle Regeln der Demokratie im Amte beließ, sollte dennoch ein großes Fest des Friedens werden und wurde es auch. Die Ausrichter der Spiele, die offiziell vom 26. Juli bis 11. August stattfanden, wichen in einigen Punkten vom einst „heiligen“ olympischen Protokoll ab und ließen sich ein paar wunderbare Neuerungen und Überraschungen einfallen. So fand die Eröffnungsveranstaltung mit der Vorstellung der diesmal 206 Mannschaften (eingeschlossen ein staatenloses Team zum Beispiel für wegen des Krieges gegen die Ukraine gesperrten Sportler aus Russland und Weißrussland sowie Flüchtlingen aus anderen Regionen) nicht wie gewohnt in einem Stadion statt. Die Pariser Organisatoren boten vielmehr eine bewunderte Show mit vielen Stars und einem Blick in die Geschichte der Republik Frankreich rund um ihre historischen Sehenswürdigkeiten und den zentralen Fluss, die Seine. Die Mannschaften aus aller Welt kamen auf hunderten großen und kleinen Booten zum Ort der eigentlichen Eröffnungszeremonie ins künstliche Stadion am Fuße des Eifelturmes. Das olympische Feuer, das seit Entzündung im April im antiken griechischen Ort Olympia über 68 Etappen und unter Beteiligung von tausenden Menschen nach Paris gebracht worden war, kam nach einem Staffellauf durch Paris per Schiff zur Eröffnungsfeier. Dort wurde es in einem Ring entfacht und entschwebte dann unter einem Heißluftballon hängend 30 Meter hoch über den Garten der Tuileries nahe dem Louvre, wo es für die Zeit der Spiele weithin sichtbar leuchtete.  

Paris setzte wie zuvor versprochen auf Nachhaltigkeit und damit auf temporäre Wettkampfstätten, die in der Innenstadt rund um den Eifelturm, in historischen Gebäuden oder im Park von Versailles (Reitsport) errichtet worden waren. Lediglich die Leichtathletik und die Abschlussfeier wurden im großen Stade de France im Stadtteil Saint-Denis und der Fußball (in verschiedenen Städten) ausgetragen. Die Segler wetteiferten auf dem Mittelmeer vor Marseille, die Surfer weit entfernt am Strand von Tahiti und die Sportschützen in dem kleinen Städtchen Déols, wo bereits zuvor eine ausgezeichnete Sportstätte dafür vorhanden war. Die Seine allerdings, neben dem Eifelturm eines der Synonyme für die Stadt Paris, spielte nicht wie gewollt mit. In ihrem Wasser sollten die Wettbewerbe der Langstreckenschwimmer und der Triathleten ausgetragen werden. Um den Fluss dafür sauber zu bekommen, investierte man Unsummen an Geld, doch ausgerechnet am Tage der Eröffnungsfeier machte anhaltend strömender Regen diesbezügliche Anstrengungen fast zunichte. Die Rennen wurden um einen Tag verschoben, dann aber trotz Bedenken durchgezogen. Ob es einem oder einer Sportlerin geschadet hat, ist nicht nachweisbar, dafür aber grassierte im Olympischen Dorf die schon überwunden geglaubte Corona-Pandemie.

Insgesamt traten 10.500 Sportlerinnen und Sportler von 206 Nationalen Olympischen Komitees sowie eine neutrale Mannschaft den Wettstreit um 329 Goldmedaillen in 32 Sportarten an. Erstmals wurde darauf geachtet, dass die Athletenzahl in Sachen Geschlechtergerechtigkeit ausgewogen ist. Die USA stellte mit 592 Athleten die größte Mannschaft gefolgt von Gastgeber Frankreich (573). Deutschland schickte 473 Sportlerinnen und Sportler – eingeschlossen 44 Ersatzfrauen und -männer – in 40 Sportarten zu den Spielen. In der Erfolgsbilanz allerdings liegen die Deutschen nur auf Platz 10. Den Spitzenplatz im Medaillenspiegel nimmt ebenfalls die USA mit 40 mal Gold, 44 mal Silber und 42 mal Bronze ein. China, das 405 Teilnehmerinnen und Teilnehmer entsandt hatte, stand mit 40/27/24 nur wenig nach. Japan folgte auf Platz drei (20/12/13) vor Australien (18/19/16) und den französischen Gastgebern (16/26/22). Die deutsche Bilanz, die sich gegenüber den Spielen von 2021 weiter verschlechterte, bezifferte sich auf 12 goldene, 13 silberne und 15 bronzene Medaillen.

Doch entgegen dieser Erbsenzählerei trugen auch die deutschen Sportlerinnen und Sportler ein großes Stück dazu bei, dass die Spiele von Paris zu einem emotional unter die Haut gehenden Freudenfest wurden. Vielseitigkeitsreiter Michael Jung gab gleich am ersten Wettkampf-Wochenende den erhofften Trend mit Gold vor. Dem folgte der Magdeburger Schwimmer Lukas Märtens mit seinem umjubelten Sieg über 400 Meter Freistil. In den nächsten Tagen sorgten vor allem die deutschen Ballsportteams für riesige Spannung und Überraschungen, die in Gold für die 3x3-Basketballerinnen, Silbermedaillen für die Beachvolleyballer und die Handballer sowie Bronze für die Fußballerinnen ihren Niederschlag fanden. Die Reiter hielten ihre Spitzenposition weiterhin mit zwei Siegen in der Dressur (Einzel Jessika von Bredow Werndl) und in der Mannschaft, sowie dem goldenen Erfolg von Springereiter Christian Kukuk. Dressur-Königin Isabell Werth, die diesmal mit der Mannschaft zum Sieg ritt und im Einzel zu Silber, erhöhte damit ihr gesamtes Medaillenkonto auf achtmal Gold und sechsmal Silber und löste die Kanutin Birgit Fischer aus Brandenburg (8/4) als erfolgreichste Olympionikin Deutschlands ab. 

Weitere emotionale Höhepunkte für das deutsche Team boten die Siegerinnen Yemisi Ogunleye im Kugelstoßen und Darja Varfolomejew im Mehrkampf der Rhytmischen Sportgymnastik. In der Leichtathletik, der Krone Olympias und einst Vorzeigesportart Deutschlands, sorgten außerdem der in den USA trainierende, großartige Zehnkämpfer Leo Neugebauer mit Platz zwei, die gesundheitlich angeschlagene Weitspringerin Malaika Mihambo ebenfalls mit Silber und die flinke Frauenstaffel über 4mal 100 Meter (Bronze) für tolle Stimmung. Im Rudern, wo es in früheren Jahren ebenfalls viele Erfolge für Deutschland gab, überdeckte der überragende und unter seinem Vater trainierende Solist Oliver Zeidler mit seinem überlegenen Sieg die negative Bilanz. Für einen weiteren Lichtblick sorgte der Doppelvierer der Frauen mit der Potsdamerin Maren Völz auf Schlag mit Bronze.

Womit wir bei den Brandenburgern und vor allem den Potsdamern wären. 33 Wettkämpfer und Wettkämpferinnen (zwei Reserve) konnten aus unserem Brandenburger Olympiastützpunkt für Paris nominiert werden, davon werden 23 in Potsdam betreut. Sie brachten immerhin fünf der insgesamt 40 Medaillen mit nach Hause. Max Lemke und Jacob Schopf paddelten in sehr spannenden Rennen im Kajak-Zweier und -Vierer zum Olympiasieg und setzten damit die Erfolgsserie für den Kanu Club Potsdam im Olympischen Sportclub Potsdam (OSC) eindrucksvoll fort. Einen ganz großen Endkampf bot Triathletin Laura Lindemann vom Verein Triathlon Potsdam im OSC. Nachdem sie im verregneten Einzel-Wettbewerb gestürzt war, führte sie die Mixedstaffel eindrucksvoll zu Gold. Sie wurde dafür zusätzlich geehrt, in dem man ihr zusammen mit dem Essener Kanuten Max Rendschmidt die deutsche Fahne bei der Abschlussfeier in die Hände gab. Die Cottbuser Bahnrad-Spezialistinnen Emma Hinze, Lea Sophie Friedrich und Pauline Grabosch starteten mit Bronze im Teamsprint und setzten mit Silber durch Friedrich im Sprint sogar am letzten Wettkampftag einen Schlusspunkt der Spiele. Großartige Leistungen boten aus Brandenburger Perspektive außerdem Brustschwimmer Melvin Imoudu vom Potsdamer SV und Gymnastin Margarita Kolosov vom SC Potsdam, die jeweils nur knapp eine Medaille verpassten, sowie Speerwerfer Julian Weber vom Olympiastützpunkt Potsdam, der trotz großer Weite von 87,40 Metern Sechster wurde. 

Insgesamt wollten die deutschen Sportlerinnen und Sportler die schnell aufkommende Kritik an ihrer Erfolgsbilanz nicht auf sich sitzen lassen und machten ihrem Unmut über viel zu schlechte Rahmen- und Förderbedingungen in Deutschland Luft. Will sich unser Land mal wieder für die Austragung der Spiele bewerben, müsse der Wert des Sports insgesamt klarer erkannt und in vielen Bereichen weit mehr investiert werden. Solch eine Bewerbung wurde in der ersten Euphorie nach diesem von den Franzosen gestalteten grandiosen Fest des Sports durch den Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) und die Politik für 2040 in Aussicht gestellt.

Die Franzosen zeigten, dass nicht nur neue, teure und überdimensionierte Bauten, die später niemand braucht, sondern große Gastfreundschaft, Anteilnahme am Geschehen durch stets prall gefüllte, stimmungsvolle Ränge in temporär errichteten Sportstätten, viele liebevolle Ideen und herzliche Gastfreundschaft so ein Ereignis bedeutungsvoll und groß machen. Los Angeles in vier Jahren wird Mühe haben, ähnlich die Herzen der Sportler und der zuschauenden Menschen in aller Welt zu erobern.

Olympiateilnehmer 2024 in Paris vom Potsdamer Olympiastützpunkt:

Leichtathletik

Julian Weber
Speerwerfen: Platz 5

Jean Paul Bredau
4mal 400 Meter: Vorlauf ausgeschieden, Platz 10
4mal 400 Meter Mixed: Vorlauf ausgeschieden, Platz 15

Christopher Linke
20 km Gehen: Platz 19
Mixed (mit Saskia Feige): Platz 10

Henrik Jansen
Diskuswurf: Vorkampf ausgeschieden

Tyrel Prenz
4mal 400 Meter: Vorlauf ausgeschieden, Platz 10

Clemens Prüfer
Diskuswurf: Platz 6

Kristin Pudenz
Diskuswurf: Platz 10

Lena Sonntag
Team-Marathon (Ersatz)

Kanurennsport

Max Lemke
Kajak-Zweier, 500 Meter: Gold
Kajak-Vierer, 500 Meter: Gold

Jacob Schopf
Kajak-Zweier, 500 Meter: Gold
Kajak-Vierer, 500 Meter: Gold

Sebastian Brendel
Canadier-Einer, 1000 Meter: Platz 8

Anton Winkelmann
Kajak-Einer, 1000 Meter: Platz 10

Hedi Moana Kliemke
Canadier-Zweier, 500 Meter: Platz 9

Maike Jakob
Canadier-Einer, 200 Meter: ausgeschieden, Platz 28

Rudern

Maren Völz
Doppelvierer, 1000 Meter: Bronze

Mattes Schönherr
Achter: Platz 4

Schwimmen

Melvin Imoudu
100 Meter Brust: Platz 4
4mal 100 m Lagen: Platz 7
4mal 100 Meter Lagen Mixed: Platz 9

Triathlon

Laura Lindemann
Mixed-Staffel: Gold
Einzel: Platz 8

Nina Elm
Einzel: Platz 12

Moderner Fünfkampf

Marvin Dogue
Einzel: Platz 8

Fabian Liebig
Einzel: Platz 12

Rhythmische Sportgymnastik

Margarita Kolosov
Einzel-Mehrkampf: Platz 4

Judo

Erik Abramov
Schwergewicht: Achtelfinale ausgeschieden
Mixed-Team: Platz 5

Ringen

Erik Thiele
Freistil bis 97 kg: ausgeschieden