Kolumne der Woche: Kriegsende - Zäsur und Neuanfang

Oberbürgermeister Jann Jakobs
© Oberbürgermeister Jann Jakobs
Oberbürgermeister Jann Jakobs

1. Mai 2016

Liebe Potsdamerinnen und Potsdamer,

der Mai steht traditionell im Zeichen der Erinnerung. Am 8. Mai 1945 wurde der Zweite Weltkrieg in Europa beendet. Als die tiefste Zäsur in der deutschen Geschichte markiert dieses historische Datum den Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes, das den barbarischsten aller Kriege der Menschheit entfesselt hatte. Der totale Krieg des Deutschen Reiches hatte am 8. Mai 1945 zu seiner totalen Niederlage geführt. Dem werden wir am kommenden Sonntag in würdigem Rahmen und dem früheren Ministerpräsidenten Matthias Platzeck als Hauptredner auf dem Sowjetischen Friedhof am Bassinplatz gedenken.

Der 8. Mai 1945 beendete nicht nur die europäische Apokalypse mit Millionen von Toten und einer nie zuvor dagewesenen Zerstörungskraft. Dieses Datum, dem Ende und Anfang zugleich eingeschrieben war, gehört zu den wichtigsten Koordinaten der deutschen Identitätsbestimmung. Die Zeitgenossen hatten noch von der vielbeschworenen Stunde Null gesprochen. Denn sie ersehnten eben im Ende der zwölfjährigen nationalsozialistischen Diktatur einen entlastenden Bruch mit der alten Ideologie. Doch der 8. Mai lehrte in seiner alljährlichen Wiederkehr, wie sehr die deutsche Gesellschaft in unterschiedlichster Weise mit der NS-Zeit verwoben blieb: In den ersten Jahren nach 1945 versuchten die meisten Deutschen, das Trauma von Diktatur und Krieg abzuwehren und sich von einer Mitschuld freizusprechen. Auch in einer klar gezogenen Trennung zwischen dem nationalsozialistischen Regime und dem deutschen Volk wurden öffentlich Entlastungen gesucht. Demnach waren das Regime beziehungsweise einzelne Personen dieses Regimes die Täter und das Volk das verführte Opfer. Der Weg einer selbstkritischen Auseinandersetzung – das lehrt uns des Weiteren die Erinnerung an den 8. Mai – war lang und beschwerlich und ist mit dem Ringen nach einem Bekenntnis zur historischen Schuld im Kern verbunden.

Diese Sicht hatte besonders anläßlich der Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum „40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ am 8. Mai 1985 in der Gedenkstunde im Plenarsaal des deutschen Bundestages für ein fulminantes internationales Echo gesorgt. Weizsäcker hatte in ihr schonungslos dargelegt, dass der 8. Mai für die Deutschen kein Tag der Niederlage, sondern ein „Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ bedeutete. Diese historische Einschätzung mag bis heute nicht selbstverständlich sein, für uns in der Landeshauptstadt ist und bleibt sie geltendes Bekenntnis. Ebenso ist für uns gültig, dass der 8. Mai 1945 eng mit dem 30. Januar 1933, dem Tag - an dem Reichspräsident von Hindenburg Hitler zum Reichskanzler ernannte – in enger Verbindung steht.  

Hatte die Niederlage Deutschlands am 8. Mai 1945 die übergroße Mehrheit der Deutschen in ihrem Selbstbewusstsein erschüttert und bedeutete für die meisten Deutschen der Sieg der Alliierten und der Roten Armee keine Befreiung, so hat die andauernde Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in beiden deutschen Staaten dem Kernsatz  Weizsäckers heute - bei allen geschichtspolitischen Kontoversen und Instrumentalisierungen im Osten wie im Westen - zu einer breiten Anerkennung verholfen. Unabhängig davon können wir uns auf eine unverzichtbare Gemeinsamkeit besinnen: auf die Trauer der Toten. Denn in der Trauer um die entsetzlich große Zahl der gewaltsam umgebrachten Menschen im Zweiten Weltkrieg findet sich die Vielzahl der persönlichen Erinnerungen mit den ebenso vielfältigen Erfahrungen zusammen. Die Trauer eint uns wie auch das Bekenntnis zur Vergangenheit.

Wir in Potsdam stellen uns unserer Geschichte mit einer unermüdlichen Vergangenheitsarbeit. Ich denke hier etwa an die Stolpersteine, die an die Deportierung der jüdischen Mitbürger unserer Stadt erinnern, und ich denke vornehmlich an die Gedenkstätte Lindenstraße, die mit einem breiten pädagogischen Programm die Zeiten der beiden deutschen Diktaturen am authentischen Ort vermittelt.

Als wir in der diesjährigen Erinnerung an den 14. April 1945, der Zerstörung Potsdam durch ein britisches Bombardement, Zeitzeugen dieser „Nacht von Potsdam“ ermutigten, sich in der Landeshauptstadt zu melden, weil ihre Erinnerungen festgehalten werden sollen, meldeten sich in kurzer Zeit mehr als ein Dutzend Zeitzeugen. Das macht die Präsenz des Erlebten deutlich und fordert dazu auf, diese Erinnerungen zur Pflege an die Nachgeborenen weiterzureichen.

Die NS-Vergangenheit mit dem 8. Mai ist damit zu einem selbstverständlichen Teil unserer gegenwärtigen Identität geworden. Die Vergewisserung unseres eigenen Standortes vermag uns das Rüstzeug geben, um uns klar gegen den seit einigen Jahren verstärkt auftretenden Fremdenhass und den Plattitüden der  Pegida-Parolen zu positionieren. Derartige rechte Entwicklungen machen mehr als deutlich, dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht abgeschlossen ist und beendet sein darf. Auch nicht 71 Jahre danach.

Ihr

Jann Jakobs