Geschichten über Potsdamer Olympioniken: Potsdam ist ein Bobsport-Mekka

Potsdamer Olympioniken Teil 18

Die Winterspiele von 1920 bis 2018

Text von Horst Sperfeld

Wintersport im Flachland Potsdam. Das ist doch Unfug. Der höchste Berg in der Umgebung von Brandenburgs Hauptstadt ist der Kleine Ravensberg mit gerade mal 114 Metern. Schnee gibt es auch nur alle Jubeljahre einmal und wenn, dann nur für ein paar Tage. Dennoch: es gab hier viele Ansätze, der weißen Pracht sportlich zu huldigen. Der spannendste war wohl die 1955 aus Kiefernstämmen errichtete Skisprungschanze der SG Geltow auf dem Schäferberg zwischen der einstigen Bergmeierei, damals noch eine beliebte Ausflugsgaststätte, und dem Bayrischen Haus, dem heutigen Nobel-Hotel. Der Weitenrekord auf dem durchaus bombastisch wirkenden, 1970 wieder abgetragenen Backen soll bei 29 Metern gelegen haben, erreicht von Karl Lorenz aus Kleinmachnow. Damit konnte allerdings kein olympischer Blumentopf errungen werden. Und doch waren und sind im Potsdamer Umfeld Sportler zu Hause, die bei Winterspielen für Furore sorgten.

Ein Vorreiter war der schwedische Eiskunstlauf-Olympiasieger Gillis Grafström, der seit den 1920er Jahren in Bornstedt bei Potsdam lebte und dort auch begraben ist. Seine Disziplin konnte hier allerdings spätestens seit dem endgültigen Umzug des Kunstlaufens in die Kunsteishallen keine Zukunft mehr haben. Dafür hätte eine teure Anlage errichtet werden müssen, doch den Aufwand wollte selbst die im Sport kaum Kosten scheuende DDR nicht betreiben, die in anderen Städten entsprechende Leistungszentren hatte. Was blieb den hiesigen Freunden des Kufenlaufens? Sie stiegen auf Rollen um, suchten sich eine glatte Betonfläche und bildeten eine Rollsport-Sektion bei der BSG Lokomotive Potsdam. Trotz ihrer beachtlichen Leistungen konnten sie aber nie in die großen Schlagzeilen kommen, denn Rollkunstlauf war und ist bis heute keine olympische Sportart.

In Potsdam gab es aber die Kaderschmiede der Leichtathleten. Und es war klar, dass nicht jeder von den Läufern, Werfern oder Stoßern Olympiasieger werden konnte. Wer aber auf volle Power trainiert ist, kann diese Kraft doch auch anders als auf der Aschen- oder Tartanbahn nutzen, dachte man sich. Richtig. Besonders gut geeignet für Umsteiger war und ist der Bobsport, bei dem die deftigen Oberkörper, kräftigen Oberschenkel und drahtigen Waden gepaart mit entsprechendem Gewicht die schweren Schlitten am schnellsten in Fahrt bringen. Anschieben also. Der Wechsel von Leichtathleten in die Kufen-Ungetüme wurde weltweit zur Normalität.

Im Wintersportort Oberhof in Thüringen hatte die Sportvereinigung der Nationalen Volksarmee der DDR ihr entsprechendes Leistungszentrum. Hier wurden neben Skilangläufern, Skispringern, Biathleten und Rodlern mit Beginn der 1970er Jahre auch Bobsportler ausgebildet. Für sie und die erfolgreichen Rennrodler baute man von 1969 bis 1970 eine Kunsteisbahn in die Mittelgebirgs-Idylle, erst die zweite weltweit. Auf der heute 1354,5 Meter langen Piste gingen bereits 1974  die Weltmeisterschaften der Rodler mit reichlich Siegen für die Gastgeber über das gefrorene Nass.

Einer der ersten Leichtathleten, der von Potsdam nach Oberhof zum Bob wechselte, war Meinhard Nehmer. Im Speerwerfen hatte es der Recke nur einmal zu einem dritten Platz bei DDR-Meisterschaften gebracht. Das neue Metier lag dem jungen Mann, der am äußersten Nordzipfel der Insel Rügen aufwuchs, weit besser. Meinhard Nehmer wurde zum Tüftler in Sachen Bob und schließlich zum weltweit besten Piloten. Seine Extra-Klasse demonstrierte Nehmer 1976 bei Olympia in Innsbruck, als er sowohl im Zweier als auch im Vierer der Konkurrenz keine Chance ließ. Nehmer saß vier Jahre später in Lake Placid noch an den Lenkseilen und brachte auch dort den Vierer am schnellsten ins Tal. Sein Wissen nutzte nach der politischen Wende unter anderem der USA-Bobverband, der ihn als Nationaltrainer engagierte.

Hinter Pilot Meinhard Nehmer saß 1978 bei den Weltmeisterschaften ein anderer Potsdamer im Sieger-Bob, der in dem rasanten Metier noch längere und prägnantere Spuren hinterlassen sollte. Raimund Bethge, von Nehmer 1975 nach Oberhof gelockt, stieg in den Jahren nach 1990 zum erfolgreichsten Bob-Nationaltrainer der Welt auf. Die sportliche Erfolgsbilanz des ehemaligen Hürdensprinters, der wie viele Potsdamer Olympioniken aus Schwedt stammt, nahm sich in seiner aktiven Wettkampfzeit mit einem einzigen Weltmeistertitel in einem Nehmer-Bob eher bescheiden aus. Doch als Bob-Bundestrainer des gerade wiedervereinten Deutschlands zeichnete Bethge für die erstaunlich problemlose Vereinigung beider Verbände sowie in der Folge für 52 Goldmedaillen bei Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften verantwortlich.

Der Potsdamer Raimund Bethge, der durch einen Bus-Unfall aus dem aktiven Sporttreiben gerissen wurde, formte zunächst in Oberhof einen Nachfolger für Pilot Meinhard Nehmer. Wolfgang Hoppe, der ebenso Legenden-Status als Bob-Lenker bekam wie sein Vorgänger, wechselte als Zehnkämpfer in Erfurt ins nahe Oberhof. Hinter Hoppe, der zweimal Olympiasieger wurde, nahm 1994 im finnischen Lillehammer bei der Bronze-Fuhre des Vierers der ehemalige Potsdamer Acht-Meter-Weitspringer Carsten Embach Platz. Embach zündete unbewusst so richtig den Funken für Bob-Karrieren einstiger Leichtathleten vom Havelufer.

Den ASK Vorwärts Potsdam gab es seit 1990 nicht mehr. Die Leichtathleten übten zunächst bei den beiden nachfolgenden Vereinen OSC und SC Potsdam, ehe sie sich in letzterem wieder zusammen taten. Ex-Weitspringer Carsten Embach vollzog sein Kraft- und Fitnesstraining für seine Bob-Karriere weiter in ihrem Umfeld. Nicht nur das, Embach bekam von seinem einstigen Leichtathletik-Trainer Heinz Rieger noch immer den einen oder anderen Tipp. Rieger hatte mit dem Zerfall der DDR sowohl seinen Arbeitsplatz im Armeesportklub als auch seine meisten Schützlinge verloren. Riegers Sohn Peter, den der Vater ebenso einst zum Weltklasse-Weitspringer geformt hatte, stellte sich mit weiteren Enthusiasten an die Spitze des neuen Vereins. Sie sorgten dafür, dass der SC Potsdam durch ständig neue Ideen und Abteilungen zum größten Sportverein Brandenburgs mit inzwischen fast 5000 Mitgliedern wuchs. Und sie sorgten für neuen Leichtathletik-Nachwuchs, mit dem auch Vater Heinz Rieger wieder sein Betätigungsfeld fand.

Unter den Fittichen von Heinz Rieger wuchs schließlich ein junger Sprinter heran, dem die Fachwelt entsprechend seinen Leistungen im Jugendbereich eine große Zukunft voraussagte. Kevin Kuske hieß der Bursche, dessen Mutter Roswitha auch schon von Heinz Rieger trainiert worden war. Kevin wuchs und wuchs, hatte bald die Figur eines Zehnkämpfers. Schließlich wurde dieses außergewöhnliche Talent durch eine Verletzung ausgebremst. Wie sollte es weiter gehen? Die Antwort lag nahe, wurde dem Jungen fast täglich vor Augen geführt, denn noch immer schwirrte jener Carsten Embach in der Trainingshalle herum. Dessen Bobsport war die Lösung. Kuske wechselte 1999 zunächst gegen den Willen seines Trainers ebenfalls nach Oberhof, feilte jedoch weiter wie Embach im heimischen Potsdam an der Kombination zwischen Kraft und Schnelligkeit.  

Beim SC Potsdam fragten sich die Riegers und ihre Mitstreiter, warum man die Lorbeeren nicht selber einfahren sollte. Folgerichtig gründeten sie in ihrem Verein eine Abteilung Bobsport und dann sogar einen entsprechenden Landesverband. Ja sie organisierten sogar Bob-Wettbewerbe mit internationaler Beteiligung hier im Flachland. Da sie über keine entsprechende Bahn verfügten, bauten sie sich eine transportable Piste, auf der die Anschieber mit ihrem auf Räder und Schienen gesetzten Bob wetteifern konnten. Unter ihren eigenen Leichtathletik-Schützlingen fand sich genügend Bob-Nachwuchs, der längst auch auf einer fest installierten Anschubstrecke im Luftschiffhafen trainieren kann. Auch Kevin Kuske, mittlerweile mehrfacher Olympiasieger, kam 2010 zurück und gewann seine Medaillen nun für den SC Potsdam. Der Modellathlet blieb das Aushängeschild und soll zeitweilig der stärkste und schnellste Anschieber der Welt gewesen sein. Sein Sprint-Rekord über 30 Meter, der die Beschleunigung so eines Schlittens in Zahlen ausdrückt, liegt bei 3,69 Sekunden. Damit war Kuske schneller als der Jamaikaner Usain Bolt 2008 bei den Olympischen Spielen von Peking im Weltrekord-Finale über 100 Meter. Trainer-Senior Heinz Rieger, der einstige Skeptiker, war längst zum Übervater einer ganzen Reihe von großartigen Bobsportlern aus Potsdam geworden. Leider konnte er nicht mehr miterleben, wie sein Schüler Kevin Kuske zuletzt bei den Olympischen Winterspielen in Pyeongchang mit inzwischen auch schon 39 Jahren erneut Silber im von Nico Walther aus Oberbärenburg gesteuerten Vierer gewann und damit gar zum erfolgreichsten Bob-Olympioniken aller Zeiten avancierte.

Und während Kuske nach insgesamt vier goldenen und zwei Silbermedaillen seinen Abschied vom harten Sitz im schweren Schlitten erklärte, ist längst für die Weiterführung der erfolgreichen Potsdamer Bob-Flachland-Tradition gesorgt. Denn in Pyeongchang brachten noch zwei kräftige Typen aus dem Märkischen rasende Fuhren in Schwung. Christian Poser kam im Zweier als Partner von Nico Walther zum vierten Rang. Lisa Buckwitz, ehemalige Siebenkämpferin und im beschaulichen Schöneiche zu Hause, sorgte zusammen mit Pilotin Mariama Jamanka aus Oberhof für die größte Überraschung im deutschen Bob-Team. Zum ersten Male bei Olympia dabei, sollten die Beiden Erfahrungen sammeln. Das taten sie. Sie erfuhren gleich wie es ist, auf dem obersten Treppchen bei der Siegehrung zu stehen, sie fuhren auf Anhieb zum olympischen Gold. Und Lisa Buckwitz dürfte demnächst eine weitere Dimension in die Potsdamer Bobsport-Tradition bringen. Sie möchte nun selbst eines dieser schweren Ungetüme steuern und wäre damit die erste Pilotin vom SC Potsdam.   

Olympiateilnehmer bei Winterspielen mit einem Potsdamer Hintergrund:

1920:

  • Ludowika Antje Margareta Jakobsson - Eiskunst-Paarlauf: Gold (Ludowika Antje Margareta Jakobsson wurde in Potsdam unter dem Mädchennamen Eilers geboren und heiratete 1907 den Finnen Walter Jakobsson, mit dem sie auch Olympiasiegerin wurde)
  • Gillis Grafström - Eiskunstlauf, Einzel: Gold (Architekt Grafström lebte ab 1925 in Potsdam)

1924 in Camonix:

  • Ludowika Jakobsson - Eiskunst-Paarlauf: Silber
  • Gillis Grafström - Eiskunstlauf, Einzel: Gold

1928 in St. Moritz:

  • Gillis Grafström - Eiskunstlauf, Einzel: Gold

1932 in Lake Placid:

  • Gillis Grafström - Eiskunstlauf, Einzel: Silber

1984 in Sarajewo:

  • Ingo Voge - Vierer-Bob: Silber (Der Falkenseer brachte es als Sprinter beim ASK Potsdam auf 10,6 Sekunden über 100 Meter, wechselte 1981 zum Bobsport nach Oberhof)

1988 in Calgary:

  • Ingo Voge - Vierer-Bob: Silber
  • Bodo Ferl - Vierer-Bob: Platz 8 (Bodo Ferl stammt aus Kyritz und war beim ASK Potsdam Kugelstoßer)

1992:

  • Monique Garbrecht - Eisschnelllauf, 500 Meter: Platz 4; 1000 Meter: Bronze; 1500 Meter: Platz 5 (Monique Garbrecht wurde in Potsdam geboren und wuchs bis zum 11. Lebensjahr in Kleinmachnow auf.)

1994 in Lillehammer:

  • Carsten Embach - Vierer-Bob: Bronze (Carsten Embach kommt aus Stralsund und war für den ASK Potsdam der letzte DDR-Meister im Weitsprung. Er wechselte kurz nach der Wende nach Oberhof, später zurück zum SC Potsdam.)

2002 in Salt Lake City:

  • Carsten Embach - Vierer-Bob: Gold
  • Kevin Kuske - Vierer-Bob: Gold
  • Stefan Barucha - Vierer-Bob: ausgeschieden

2006 in Turin:

  • Kevin Kuske - Zweier-Bob: Gold; Vierer-Bob: Gold

2010 in Vancouver:

  • Kevin Kuske - Zweier-Bob: Gold; Vierer-Bob: Silber
  • Andreas Barucha - Vierer-Bob: Platz 4

2014 in Sotschi:

  • Kevin Kuske - Zweier-Bob: Platz  11; Vierer-Bob: Platz 7
  • Christian Poser - Vierer-Bob: Platz 7
  • Stephanie Schneider - Zweier-Bob, Damen: Platz zehn (Schneider steuert den Bob für den BSC Sachsen Oberbärenburg, war jedoch ab 2006 Werferin beim SC Potsdam, wechselte hier zu Trainer Heinz Rieger als Bob-Anschieberin, ehe sie zurück ins heimische Sachsen ging)

2018 in Pyeongchang            

  • Mariama Jamanka - Zweier-Bob, Damen: Gold (Die Berlinerin fuhr als Pilotin für Oberhof, war zuvor Hammerwerferin, wechselte 2013 als Bobanschieberin zum SC Potsdam, 2015 zum BSR Rennsteig Oberhof)
  • Lisa Buckwitz - Zweier-Bob, Damen: Gold
  • Kevin Kuske - Vierer-Bob, Herren: Silber
  • Christian Poser - Zweier-Bob, Herren: Platz vier 
  • Stephanie Schneider - Zweier-Bob, Damen: Platz vier (Stephanie Schneider steuert den Bob für den BSC Sachsen Oberbärenburg, war ab 2006 Werferin beim SC Potsdam, wechselte hier zu Trainer Heinz Rieger als Bob-Anschieberin, ehe sie zurück ins heimische Sachsen ging)

Quelle: Volker Kluge: "Olympische Winterspiele, Die Chronik", Sportverlage Berlin, www.sports-reference.com, "Märkische Allgemeine Zeitung"