Geschichten über Potsdamer Olympioniken: Ein 16. August, der lange nachwirkt

Potsdamer Olympioniken, Folge 14

Text: Horst Sperfeld

Geschichten über Potsdamer Olympioniken: Ein 16. August, der lange nachwirkt

Potsdamer Olympioniken, Teil 14

Athen 2004

Es muss nicht immer eine Vielzahl von Medaillen sein, mit denen sich ein Sportler oder eine Sportlerin ins Geschichtsbuch einträgt. Birgit Fischer schaffte es zunächst mit ihrer Jugend, als sie gerade 18-jährig 1980 in Moskau die Einer-Konkurrenz der Kajak-Fahrerinnen gewann. Sie dominierte danach über Jahrzehnte unbeeindruckt vom Älterwerden, von der zweifachen Mutterschaft und der nachfolgenden internationalen Konkurrenz immer wieder die Szene. Und sie wird auch in dieser Folge über die Potsdamer Olympioniken wieder eine der Hauptrollen spielen. Ein wenig die Show - mit lokaler Brille betrachtet - stielt der bereis 42-jährigen Grand-Dame des Kanurennsports in Athen allerdings eine fast halb so junge Dame in einer anderen sportlichen Disziplin: Yvonne Bönisch.

Doch zunächst zum Umfeld der Olympischen Sommerspiele von 2004. Die Völker der alten Welt, die gerade so sehr ihre Unabhängigkeit erstrebt hatten, rutschen wieder enger zusammen. Sie zieht es in die Europäische Union, die in jenem Olympiajahr um zehn Mitglieder auf 26 Länder anwächst. Fast in gleichem Maße vergrößert sich auch das nordatlantische Militärbündnis, die NATO, und rückt mit dem Zuwachs durch die baltischen Ex-Sowjetrepubliken sowie die Balkanstaaten immer näher an Putins Riesenreich Russland heran.

Im Irak tobt seit über einem Jahr der Krieg. Die Jagd der Amerikaner auf den dort gestürzten, untergetauchten Diktator Saddam Hussein treibt grausige Blüten und bringt unendliches Leid. Deutschlands Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder hält sich wohlweislich da raus. Der Nahe Osten, genauer der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, der 1972 sogar die Olympischen Spiele ereilt hatte, verliert auch 2004 nichts an seiner Grauenhaftigkeit. Schließlich schlagen auch die Konflikte mit der islamischen Welt immer öfter auch auf Europa zurück, führen Fanatiker mit Menschen verachtenden Terroranschlägen einen verdeckten Krieg gegen den Westen. Negativ-Zenit ist diesmal ein Attentat auf einen Vorortzug in Madrid, der 191 Leben fordert.

Doch es gibt auch bessere Nachrichten. Zum Beispiel für die Griechen, die Veranstalter der Olympischen Spiele. Ein Deutscher, nämlich Otto Rehhagel, führt ihre Mittelklasse-Fußballer zu einem kaum für möglich gehaltenen Höhenflug, an dessen Ende der Europameistertitel steht. Das beflügelt die Hellenen auch für das größte Fest des Sports. Sie stellen sogar die Olympia-Bauten noch rechtzeitig fertig, woran außerhalb Griechenlands niemand mehr glauben wollte. Lediglich die Schwimmhalle hat während der Spiele noch kein Dach, doch dieser Sport wurde ohnehin früher fast immer unter der Sonne durchgeführt. Die Eröffnungsveranstaltung steht der von den "besten Spielen aller Zeiten" vier Jahr zuvor in Sydney in Sachen Pathos nichts nach. Endlich, mit acht Jahren Verspätung, dürfen die gefühlten Väter Olympias einen großartigen Show-Bogen in die Antike schlagen, was ihnen zum 100. Jubiläum der Neuzeit-Spiele mit der Vergabe des Spektakels an Atlanta verwehrt worden war. Doch die Griechen sorgen auch für den größten Skandal ihres Festes. Denn ausgerechnet ihre beiden prominenten Sprinter Ekaterina Thanou und Kostas Kenteris werden wegen Dopings von den Wettkämpfen suspendiert.

Zurück zur deutschen Mannschaft, die diesmal von 441 Sportlern und Sportlerinnen gebildet wird. Unter den insgesamt 201 Ländervertretungen belegt sie am Ende wieder den fünften Rang in der imaginären Nationenwertung. Dafür reichen 13 Olympiasiege, 16 Silber-Ränge und 20 Bronzene. Die USA (36/39/26) bleibt an der Spitze vor Russland (28/26/36), China (32/17/14) und Australien (17/16/17). Im deutschen Lager schmerzt es sehr, dass erneut die Leichtathleten mit nur zweimal Silber und die Schwimmer mit einmal Silber und dreimal Bronze keine Titel beitragen. Das übernehmen zum Glück wieder andere, womit wir bei den Potsdamern wären.

Am Freitag den 13. August wurden die von einem Riesenaufgebot an Sicherheitskräften geschützten Spiele eröffnet. Schon am Montag, den 16. August, wird Yvonne Bönisch zum Medien-Star. In der Judohalle knallt die 24-jährige Blondine vom UJKC Potsdam ihre Gegnerinnen in der attraktiven Gewichtsklasse bis 57 Kilogramm nur so auf die Matte. Yvonne Bönisch bietet vor einer Vielzahl mitgereister Freunde aus ihrem Heimatverein ein zupackendes, von Schnelligkeit und Resolutheit geprägtes technisches Repertoire, das selbst von den Größen dieser feinen Kampfsportart nur sehr selten zu sehen ist. Beigebracht hat es ihr der eigenwillige, aber perfekte Heimtrainer Axel Kirchner, von dem sie damals jeden Hinweis aufsaugt und jede Trainingsaufgabe bedingungslos ausführt. Und den sie sogar heiraten wollte, was einige Schlagzeilen im Boulevard diktierte. Das Wichtigste aber hat sich die Sportlerin selbst eingebläut: den unbändigen Kampfeswillen. Schon im Vorfeld der Spiele fokussierte sich die gebürtige Ludwigsfelderin mit flotten Sprüchen auf jenen 16. August 2004. Einer davon lautete: "Nichts da, ich fahre nicht zu den Olympischen Spielen, um dort Erfahrungen zu sammeln und eine unter vielen zu sein. Eine Medaille muss es werden." Yvonne Bönisch gewinnt Gold und bleibt damit bisher (2015) die erste und einzige deutsche Olympiasiegerin dieses Sports überhaupt.

Birgit Fischer, ja sie ist und bleibt ein Phänomen. Die 42-Jährige paddelt schon lange nicht mehr für Potsdam, trainiert sich selbst auf dem heimischen Beetzsee, auf den sie direkt von ihrem Wohnsitz am Wasser starten kann. Auch sie motiviert sich speziell für die selbst auferlegten, täglichen Strapazen. "Ich will mal sehen, inwieweit ich den jungen Kanutinnen noch Paroli bieten kann", formuliert sie nur für sich ihre Aufgabe fast bescheiden, dafür mit umso mehr Nachdruck . Doch sie will mehr, weiß besser als jeder andere was sie noch immer kann. Die älteste Kanutin der Athener Spiele holt sich tatsächlich ihr achtes Gold in 24 Jahren Olympia-Teilnahme, diesmal im Vierer-Kajak, und auch noch Silber im Zweier. Damit macht sie sich endgültig zur Legende, rückt in der Tabelle der besten Olympioniken aller Zeiten zusammen mit dem einstigen finnischen Wunderläufer Paavo Nurmi auf Rang acht. Vor ihr stehen nur noch Athleten wie US-Schwimmstar Michael Phelps, die in ihren Sportarten viel mehr Start-Möglichkeiten bekommen haben. Und Birgit Fischer musste 1984 im besten Sportler-Alter auf politisches Geheiß Olympia auslassen.

In jenem siegreichen Kanu-Quartett von Athen zieht Birgit Fischer noch mit einer Potsdamerin die Bahn, die längst ihre Nachfolgerin hätte sein können und ebenso aus Brandenburg stammt: Katrin Wagner. Die inzwischen verheiratete Katrin Augustin, die nun auch schon dreifache Olympiasiegerin ist, übernimmt diesmal außerdem die Verantwortung im Einer und fährt darin zu Rang vier. Das Solo-Boot hatte sich Birgit Fischer denn doch nicht mehr zugetraut.

Noch eine Rekord-Wasserssportlerin steht in der durch sechs Fußballerinnen aus der Schule von Meistertrainer Bernd Schröder bei Turbine wieder auf 19 Aktive angewachsenen Potsdamer Delegation. Kathrin Boron, die mittlerweile 34-jährige Ausnahme-Ruderin aus dem Seekrug, holt sich als Kopf des Doppelvierers bereits ihre vierte Goldmedaille. Das bedeutet zugleich, dass die noch immer von Welttrainerin Jutta Lau geführte Caputherin auch schon ihre vierten Olympischen Spiele aktiv erlebt. In ihrem Sport ist es gar nicht üblich, bei einem Wettbewerb in verschiedenen Klassen und damit mehrfach anzutreten. Ruderin Kathrin Boron, die in Eisenhüttenstadt geboren wurde,  wäre sonst eine ähnliche Medaillen-Ausbeute wie Kanutin Birgit Fischer zuzutrauen gewesen.

Potsdamer Olympiateilnehmer 2004 in Athen:

Leichtathletik:

  • Melanie Seeger - 20 Kilometer Gehen: Platz 5
  • Sabine Zimmer - 20 Kilometer Gehen: Platz 16
  • Claudia Hoffmann - 4mal 400 Meter-Staffel: Halbfinale
  • Andreas Erm - 20 Kilometer Gehen: disqualifiziert

Kanurennsport:

  • Katrin Wagner-Augustin - Einer-Kajak: Platz 4; Vierer-Kajak: Gold
  • Ronald Rauhe - Zweier-Kajak, 500 Meter: Gold
  • Tim Wieskötter - Zweier-Kajak, 500 Meter: Gold

Rudern:

  • Kathrin Boron - Doppelvierer: Gold
  • Kerstin Kowalski-El Qalqili - Doppelvierer: Gold
  • Daniela Reimer - Leichtgewichts-Doppelzweier: Silber

Judo:

  • Yvonne Bönisch - Gewichtsklasse bis 57 kg: Gold

Schwimmen:

  • Jana Henke - 800 Meter Freistil: Platz 7

Fußball:

  • Nadine Angerer - Frauenfußball: Bronze
  • Ariane Hingst - Frauenfußball: Bronze
  • Viola Odebrecht - Frauenfußball: Bronze
  • Navina Omilade - Frauenfußball: Bronze
  • Conny Pohlers - Frauenfußball: Bronze
  • Petra Wimbersky - Frauenfußball: Bronze

Weitere Olympiateilnehmer mit Potsdamer Hintergrund:

Beachvolleyball:

  • Andreas Scheuerpflug - Herren: Platz 5
  • Stephanie Pohl - Damen: Platz 5
  • Susanne Lahme - Damen: Platz 9

Judo:

  • Sandra Köppen - Klasse +78 kg: ausgeschieden

Rudern:

  • Katrin Rutschow-Stomporowski - Einer: Gold
  • Jekaterina Karsten - Einer: Silber

Radsport:

  • Robert Bartko - 4000 Meter Einzelverfolgung: Platz 8; 4000 Meter Teamverfolgung: Platz 4

Quelle: www.sports-reference.com, "Märkische Allgemeine Zeitung"