Geschichten über Potsdamer Olympioniken: Die verpasste Chance

Potsdamer Olympioniken, Folge 9

Text: Horst Sperfeld

Geschichten über Potsdamer Olympioniken: Die verpasste Chance

Potsdamer Olympioniken, Teil 9

Los Angeles 1984

Politik ist nachtragend. Alte Potsdamer würden sagen: "Wurscht wider Wurscht!" Hatte 1980 der als Westen bezeichnete Teil der großen Industrienationen mit mäßigem Erfolg versucht, die Olympischen Sommerspiele von Moskau per Boykott ad absurdum zu führen, drehte vier Jahre später der Osten, der Ostblock, die sozialistischen Länder angestachelt von der Sowjetunion den Spieß um. Aber auch hier war der Block gegen die Spiele im Lande des Hauptfeindes USA nicht fest geschmiedet. Die Chinesen, die sich ohnehin nichts von den Sowjets diktieren ließen, schickten ihre Athleten ebenso nach LA wie die Rumänen und die Jugoslawen. Gemessen an der Zahl der teilnehmenden Länder, konnten die Amerikaner sogar einen deutlichen Sieg erringen. Waren in Moskau nach dem vom Westen ausgerufenen Boykott wegen der sowjetischen Invasion in Afghanistan rund 5300 Sportler aus 80 Ländern vertreten, kamen nach Los Angeles 6800 Starter aus 140 Staaten. Lediglich 19 Nationale Olympische Komitees hatten sich dem Aufruf, den Spielen fernzubleiben, angeschlossen. Vier Jahre zuvor waren es noch 42. Weitere 24 beantworteten seinerzeit ohne Angabe von Gründen nicht einmal die Einladung nach Moskau.

Diese Zahlen gegenüber zu stellen ist allerdings nicht ganz fair, denn erstmals in der Olympia-Geschichte der Neuzeit übernahm 1984 das IOC die Reise- und Teilnahmekosten für vier Athleten und zwei Funktionäre pro Land, wodurch in Los Angeles Nationen vertreten waren, die ansonsten nie gekommen wären. Allein 19 Länder nutzten dieses Angebot, beließen es aber bei einer auf diese Weise gesponserten Teilnehmerzahl, weitere 36 schickten unwesentlich mehr Sportler nach Kalifornien.

Warum erneut Boykott? Ganz nach dem Prinzip "Wie du mir, so ich dir" war es denn doch nicht abgelaufen. Abgesehen davon, dass bei den erstmals privat finanzierten und Gewinn abwerfenden Spielen endgültig der Kommerz die Oberhand bei der Organisation übernahm, führte die sowjetische Seite bei ihrem Boykott-Aufruf Sicherheitsbedenken an. Und die waren nicht ganz unbegründet, denn in den USA lief seinerzeit nicht zuletzt wegen der Afghanistan-Invasion eine antisowjetische Kampagne  beispiellosen Ausmaßes, die die Stimmung im Lande durchaus bedrohlich anheizte. Als dann die Amerikaner im Vorfeld der Spiele auch noch einem Olympia-Funktionär der UdSSR die Einreise verwehrten, waren genug Vorwände für den Gegen-Boykott gegeben.

Darunter zu leiden hatten erneut die Athleten, diesmal die aus dem Osten. Während sich zum Beispiel Francis Morgan "Daley" Thompson von den sich beide Male nicht um den Boykott scherenden Briten seinen zweiten Olympiasieg hintereinander im Zehnkampf holte, mussten andere Sieganwärter wegen der Politik ihre Chancen in den Wind schreiben. Womit wir auch bei den Potsdamer Sportlern wären. Zu denen, die sich olympische Medaillenhoffnungen gemacht hatten,  gehörte erneut Kugelstoßer Udo Beyer. Ein Jahr vor den Spielen durfte er sich noch beim Länderkampf USA gegen die DDR im Memorial Coliseum von Los Angeles, dem späteren Olympiastadion, wegen seines Weltrekordes von 22,22 Metern vom enthusiastischen amerikanischen Leichtathletik-Publikum feiern lassen. Dieses Gefühl bei den Spielen an gleicher Stelle noch einmal zu erleben, blieb ihm nun versagt.

Für die Olympia-Kandidaten der DDR fiel Olympia also aus. Schnell wurden Ersatz-Wettbewerbe organisiert. Nicht nur das; die DDR-Sportführung rief sogar recht offen zum Doping auf. Hinsichtlich der Fern-Duelle sei in Sachen "unterstützender Mittel alles erlaubt", hieß es. Die Leichtathleten durften sich beim diesmal über zwei Tage angesetzten, traditionellen Olympischen Tag in Berlin und Potsdam abreagieren. Und sie taten es mit Paukenschlägen, von denen einer bis in alle Ewigkeit nachhallt. Uwe Hohn aus Potsdam warf den Speer am 20. Juli 1984 im Jahnsportpark von Berlin 104,80 Meter weit. Der Weltrekord des kurz zuvor 22 Jahre jung gewordenen Schützlings von Trainer Wolfgang Skibba revolutionierte diese technisch sehr anspruchsvolle Wurf-Disziplin ein für alle Male. Nachfolgende Generationen müssen seither mit einem Speer werfen, bei dem der Schwerpunkt nach vorn verlagert wurde, damit das Fluggerät eher nach unten abkippt und damit nicht mehr so weit fliegen kann. Ohne diese Maßnahme hätte man das Speerwerfen wegen der Zuschauer-Sicherheit aus den Stadien verbannen müssen. Der Auslöser dieser Änderung, der aus Neuruppin stammende Uwe Hohn, war allerdings ein besonderes Talent. Er hatte 1984 auch jenen offenen Doping-Aufruf unbeachtet lassen können. Sein außergewöhnliches Fingerspitzen-, genauer gesagt Wurfarmgefühl, stand auch so als Garant für große Weiten. Wie ausgeprägt dieses besondere Talent war, zeigte er unter anderem beim Streichholz-Weitwerfen, bei dem er das kleine Holzstück mehrfach über 30 Meter beförderte. Das machte ihm keiner nach. Doch was nützte ihm das alles? Er musste tatenlos am Fernseh-Bildschirm zusehen, wie sich Arto Härkönen mit bescheidenen 86,76 Metern den Olympiasieg in Los Angeles holte, natürlich noch mit dem alten Speer. Immerhin, von dem Finnen spricht heute niemand mehr, Hohn hingegen fand seinen festen, ewigen Platz in der Sport-Geschichte.

Und es gab noch einen Potsdamer Leichtathleten, der bei diesem zweigeteilten Olympischen Tag zeigte, dass er in Los Angeles Olympiasieger hätte werden können. Uwe Freimuth beendete den Zehnkampf in Potsdam mit dem DDR-Rekord von 8792 Punkten. Bei den Spielen im fernen Amerika dominierte oben genannter Brite Daley Thompson mit nur fünf Zählern mehr. Es hätte ein großartiges Duell werden können.

Die DDR-Schwimmer waren ebenso besonders auf das große Kräftemessen in Los Angeles vorbereitet und mussten nun ihre Wut nach der Olympia-Absage durch ihre Sportführung anderswo auslassen. Schon bei den DDR-Meisterschaften im Mai in Magdeburg unterstrichen sie ihre großartige Form. Aus Potsdamer Sicht schob sich Allround-Talent Jens-Peter Berndt besonders in den Blickpunkt. Über 400 m Lagen legte er sogar einen Weltrekord vor, der in Los Angeles immerhin zu Bronze gereicht hätte. Dass bei einem direkten Kampf Mann gegen Mann womöglich noch mehr für ihn drin gewesen wäre, unterstrich er bei den als "Ersatzspiele" ausgerichteten "Wettbewerben der Freundschaft" Wochen später in Moskau, als er seinen Weltrekord noch einmal unterbot. Mit den Freistil-Assen Guido Müller, Uwe Dassler, Anke Sonnenbrodt und Katja Hartmann besaß der ASK Vorwärts im Luftschiffhafen noch weitere verhinderte olympische Medaillen-Aspiranten. Jahre lang hatten sie umsonst gerackert. Jens-Peter Berndt, der Lagen-Weltrekordler, wollte das alles nicht noch einmal erleben. Auf einer Wettkampfreise in Amerika verließ er ein halbes Jahr nach Olympia die DDR-Nationalmannschaft und bat in den USA um Asyl. 1988 war er dann in Seoul Olympiastarter für die Bundesrepublik Deutschland, aber lange nicht mehr in der Superform wie 1984. Aber immerhin, es reichte auch dort noch zu Platz sechs.

Aussichtsreiche Olympia-Kandidaten aus Potsdam, die 1984 durch den Boykott um ihre Chance gebracht wurden:

Leichtathletik:

  • Guido Lieske - 400 Meter
  • Frank Möller - 400 Meter
  • Andreas Hauck - 800 Meter
  • Karsten Heine - 10000 Meter
  • Ronald Weigel - 20 und 50 Kilometer Gehen
  • Udo Beyer - Kugelstoßen
  • Torsten Pelzer - Kugelstoßen
  • Uwe Hohn - Speerwerfen
  • Uwe Freimuth - Zehnkampf
  • Ulrike Bruns - 1500 und 3000 Meter
  • Gisela Beyer - Diskuswerfen
  • Diana Ganski - Diskuswerfen

Kanurennsport:

  • Birgit Fischer - Kajak-Einer, -Zweier und -Vierer
  • Hans-Jörg Bliesener - Kajak
  • Frank Fischer - Kajak
  • Jens Fiedler - Kajak
  • Peter Hempel - Kajak
  • Harry Nolte - Kajak
  • Uwe Madeja - Canadier
  • Ulrich Papke - Canadier

Turnen:

  • Holger Behrendt - Mannschaft, Mehrkampf, Reck und Ringe
  • Bernd Jensch - Mannschaft

Rudern:

  • Karl-Heinz Bußert
  • Bernd Eichwurzel
  • Bernd Niesecke
  • Karsten Schmeling
  • Dietmar Schiller
  • Klaus-Dieter Ludwig (Steuermann)
  • Hendrik Reiher (Steuermann)
  • Martina Schröter

Schwimmen:

  • Jens-Peter Berndt - 400 Meter Lagen und Rücken
  • Katja Hartmann - 200 und 400 Meter Lagen

Quelle: Volker Kluge, "Olympische Sommerspiele, Die Chronik", Sportverlag Berlin, "Märkische Volksstimme"