Der Potsdamer Nachwuchswissenschaftler-Preis wird in diesem Jahr an Dr. Jan Philipp Wölbern für seine hervorragenden Leistungen auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaften verliehen. Oberbürgermeister Jann Jakobs wird die Auszeichnung im Rahmen des Einsteintages der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften am 29.11.2013 im Potsdamer Nikolaisaal übergeben.
Als Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung und als Stipendiat im gemeinsamen Stipendienprogramm "Aufbruch 1989" der wissenschaftsfördernden Stiftungen erarbeitete Dr. Wölbern am Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) seine Dissertation zum Thema "Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen. Der Häftlingsfreikauf aus der DDR. 1962/1963-1989". Herr Dr. Wölbern verteidigte seine Dissertationsschrift im Januar an der Universität Potsdam mit der Gesamtnote „summa cum laude".
ZZF-Direktor Prof. Dr. Martin Sabrow, zugleich Betreuer der Arbeit, hebt hervor: "Wölberns Grundlagenstudie wird der Widersprüchlichkeit des Häftlingsfreikaufs auf herausragende Weise gerecht. Wölbern zeigt, dass das Handeln im Osten permanent im Spannungsverhältnis von Prinzipienverrat und Herrschaftssicherung stand, während das Handeln in der Bundesrepublik ständig zwischen Diktaturlinderung und Diktaturstützung oszillierte."
Die Promotionsarbeit war im ZZF in der Abteilung Kommunismusforschung angesiedelt, die erst vor wenigen Monaten von der Leibniz-Gemeinschaft als exzellent bewertet wurde. Deren Leiter Dr. Jens Gieseke stellt als besonderes Verdienst heraus: "Jan Philipp Wölbern hat durch beharrliche Recherche und methodische Gewitztheit die anfänglich schmale Quellengrundlage so stark zu verbreitern vermocht, dass auf ein bis jetzt weitgehend im Dunklen liegendes Feld der deutsch-deutschen Geschichte erstmals helles Licht fällt. Selbst viele freigekaufte Häftlinge erfuhren erst durch seine Recherchen über den Kontext und die Umstände ihrer Entlassung."
Oberbürgermeister Jann Jakobs zeigte sich zufrieden mit der Juryentscheidung: "Auch 20 Jahre nach dem Mauerfall ist dieses Thema hochaktuell und zieht Wissenschaftler wie die interessierte Öffentlichkeit in seinen Bann. Ich freue mich sehr, dass mit der Auszeichnung von Dr. Wölbern auch auf die Arbeit des Zentrums für Zeithistorische Forschung hingewiesen werden kann. Mit seiner herausragenden Arbeit auf verschiedenen Forschungsfeldern trägt das ZZF national wie international zum hervorragenden Ruf der Landeshauptstadt Potsdam als Wissenschaftsstandort bei".
Jan Philipp Wölbern wurde am 5.11.1980 in Marburg/Lahn geboren. Er lebt in Potsdam und absolviert derzeit am Leibniz-Gymnasium Potsdam sein Referendariat, das er im Dezember mit dem 2. Staatsexamen beenden wird. Dr. Wölbern studierte Geschichte und Politikwissenschaften an der Universität Marburg, danach Geschichte, Wissenschaftliche Politik und Englisch an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau und legte sein 1. Staatsexamen in den Fächern Geschichte, Wissenschaftliche Politik und Englisch ab. Dr. Wölbern freut sich sehr über die Auszeichnung: „Mein besonderer Dank geht gleichermaßen an die Adenauer-Stiftung und das ZZF. Beide Institutionen haben das Projekt gefördert und mir in jeder Hinsicht optimale Forschungsbedingungen in produktiver und kollegialer Atmosphäre geboten."
Die eingereichten sieben Arbeiten wurden von einer Jury unter Vorsitz von Oberbürgermeister Jann Jakobs gesichtet und bewertet. Der Jury gehörten Prof. Dr. Rolf Emmermann, ehem. Deutsches Helmholtz Zentrum GFZ, Prof. Dr. Heinz Kleger von der Universität Potsdam, Prof. Dr. Ralf Engbert von der Universität Potsdam, Prof. Dr. Reinhard Lipowsky vom Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung, Prof. Dr. Bernd Müller-Röber von der Universität Potsdam und Prof. Dr. Susan Neiman vom Einsteinforum an. Prof. Dr. Kleger begründet die Juryentscheidung: „Die ebenso genaue wie interessante Arbeit behandelt eines der schwierigsten Kapitel der innerdeutschen Beziehungen, welches gut zu Potsdam als ehemaliger Grenz- und Frontstadt passt. Die moralisch-politischen Bewertungen des Häftlingsfreikaufs gehen bis heute weit auseinander, was auch mit der Unkenntnis der spezifischen Akteurskonstellationen zu tun hat."
Hintergrundinformationen
Zwischen 1963 und 1989 kaufte die Bundesregierung über 33 000 Häftlinge aus DDR-Gefängnissen der DDR frei, die aus politischen Gründen inhaftiert worden waren. Mit dem Verkauf seiner eigenen Bürger an den Westen "erwirtschaftete" das SED-Regime mehr als drei Milliarden DM. Die Bundesrepublik stellte den Betrag in Form von Warenlieferungen über das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland bereit.
Zur Geschichte des Häftlingsfreikaufs gibt es bislang keine Gesamtdarstellung auf quellenkritischer Grundlage. Für die Studie konnten erstmals Akten des seinerzeit federführenden Gesamt-/Innerdeutschen Ministeriums, des Berliner Senates, der Evangelischen und Katholischen Kirche sowie Akten aus dem Archiv des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen genutzt werden. Die Quellengrundlage wird ergänzt durch Zeitzeugengespräche mit damaligen Akteuren und freigekauften Häftlingen.
In der Forschung herrschte bislang Konsens darüber, dass der Freikauf zuvorderst humanitär motiviert war und 1962 auf Betreiben der Evangelischen und Katholischen Kirche zustande kam, 1964 schließlich von der Bundesregierung fortgeführt wurde. Die Studie zeigt hingegen, dass er auf eine Initiative der DDR zurückging und das ökonomische Motiv ursächlich für seine Entstehung war. Vor dem Hintergrund des weitgehend in Vergessenheit geratenen Kreditwunsches der DDR-Führung an die Bundesregierung im Jahr 1962 und nach einigen Freikäufen von Privatleuten wurde 1963 das erste staatliche Freikaufsangebot von der DDR über die beiden Berliner Rechtsanwälte Jürgen Stange (West) und Wolfgang Vogel (Ost) an die Bundesregierung herangetragen.
Warum sich das SED-Regime über 25 Jahre hinweg auf den höchst widersprüchlichen Häftlingshandel einließ, zeigt der Wandel der Motivkonstellation. Bis etwa 1973/74 war zwar das ökonomische Motiv ausschlaggebend, doch knüpfte die DDR den Freikauf zunächst an die Bedingung, dass die Häftlinge an den Wohnort ihrer engeren Angehörigen zu entlassen seien. Infolgedessen verblieb in den sechziger Jahren fast die Hälfte aller Freigekauften in der DDR - oftmals, ohne jemals über die Hintergründe ihrer Entlassung zu erfahren. Da ein erheblicher Anteil der in den Westen entlassenen Häftlinge Bundesbürger waren, wurden somit weitaus weniger "DDR-Bürger" in den Westen entlassen, als bisher bekannt. Zudem eröffnete die Entlassung von Häftlingen in die DDR dem SED-Regime erheblichen Spielraum für Betrugsmanöver: In einer dreistelligen Zahl von Fällen wurden "Phantomfälle" generiert oder bereits entlassene Häftlinge mit "verrechnet". Dies lässt den Schluss zu, dass sich das Regime zunächst deshalb darauf einließ, weil es die Gegenleistungen des Westens als nützliches Zubrot betrachtete und ihm zugleich die negativen Folgewirkungen des Häftlingsgeschäfts beherrschbar erschienen. Obendrein berichteten die Westmedien nur sporadisch über den Freikauf, sodass die Vertraulichkeit der Abmachungen weitgehend gewahrt blieb.
Erst in der zweiten Entwicklungsphase seit 1973/74 avancierte das Häftlingsgeschäft zu einem wichtigen Faktor für die DDR-Volkswirtschaft, da die Erlöse zur Sicherung der Zahlungsfähigkeit der DDR gegenüber westlichen Gläubigern beitrugen. Angesichts der dramatischen ökonomischen Entwicklung seit Ende der siebziger Jahre erschien die Einstellung des Freikaufs den Verantwortlichen in der DDR weder ratsam noch möglich. Durch die seit 1973/74 obligatorische Entlassung der Häftlinge in den Westen und die regelmäßige Berichterstattung in den Westmedien verstärkten sich die negativen Folgewirkungen des Häftlingsgeschäftes zusehends. Der Freikauf eröffnete der anschwellenden Flucht- und Ausreisebewegung ein legales Schlupfloch in der Mauer, animierte einige Ausreisewillige sogar dazu, eine Verhaftung in der Absicht zu provozieren, auf diesem Wege (schneller) in die Bundesrepublik zu gelangen. Außerdem verstärkte er die "politisch-ideologischen Erosionserscheinungen" im Repressionsapparat, da sich viele MfS-Mitarbeiter zunehmend in die Rolle von "Ausreiseberatern" abgedrängt fühlten. Forderungen aus den Reihen hochrangiger MfS-Offiziere nach Einstellung des Freikaufs wies der Minister für Staatssicherheit Erich Mielke noch 1987 mit der lapidaren Begründung zurück, "Was soll der denn hier sitzen, und frisst hier bei uns! Warum sollen wir den nicht wegjagen? Weil ich ökonomisch denke für unsere Republik!"
Für die Bundesregierung bewegte sich der Häftlingsfreikauf von Beginn an auf dem schmalen Grad zwischen Kumpanei mit dem SED-Regime einerseits und pragmatischer Kooperation zum Wohle der Betroffenen andererseits. Gab es anfangs noch massive Widerstände von konservativer Seite gegen eine Ausweitung und Verstetigung des Freikaufs, rückten die grundsätzlichen Bedenken allmählich in den Hintergrund. Ansatzweise in der Zeit der Großen Koalition (1966-1969), verstärkt im Zuge der "Neuen Ostpolitik" der sozialliberalen Bundesregierung und endgültig seit dem Treffen zwischen SPD-Fraktionschef Herbert Wehner und Erich Honecker im Mai 1973 entwickelte sich der Freikauf schrittweise zu einem festen Instrument der Bonner Deutschlandpolitik, das 1982 von der christlich-liberalen Bundesregierung weitgehend unverändert übernommen wurde. Gewichtige Indizien aus Akten der Stasi-Unterlagenbehörde sprechen dafür, dass die Etablierung des Freikaufsprogramms in den achtziger Jahren zu der befürchteten Umkehr der Kausalitäten führte: Häufig war nicht mehr die Verhaftung Grund für den Freikauf, sondern der Freikauf wurde Grund für die Verhaftung - eine Entwicklung, welche die vom Westen beabsichtigte Wirkung in ihr Gegenteil verkehrte.
Schließlich zeigt der Blick auf die freigekauften Häftlinge, welche existenzielle Bedeutung der Freikauf für die Betroffenen hatte: Der Freikauf, das "Thema Nummer 1" unter den politischen Häftlingen, geriet zur Projektionsfläche ihrer Hoffnungen auf ein Ende ihrer Leiden. Dabei wurde das Freikaufsprogramm immer erfolgreicher: Wurde in den sechziger Jahren nur jeder achte politische Häftling in der DDR freigekauft, war es in den achtziger Jahren bereits jeder zweite. Abgewickelt wurde der Freikauf über die größte der insgesamt 17 MfS-Untersuchungshaftanstalten im heutigen Chemnitz. Von dort aus ging es per Bus in das Bundesnotaufnahmeverfahren in Gießen, wo der schwierige Neubeginn in der bundesdeutschen Gesellschaft begann. Aus der Rückschau beurteilen die Betroffenen den Freikauf meist positiv: Zwar waren sie Objekt eines skrupellosen Menschenhandels, zugleich aber Nutznießer einer humanitären Aktion, die ihnen ein Leben in Freiheit ermöglichte.