Pressemitteilung Nr. 218 vom 08.05.2022 Rede des Oberbürgermeisters anlässlich des 77. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa

Am Sonntag, den 8. Mai 2022 hielt Oberbürgermeister Mike Schubert am Sowjetischen Ehrenmal auf dem Bassinplatz eine Rede anlässlich des Tages des Gedenkens und der Versöhnung sowie des Jahrestages der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus vor 77 Jahren.  

Zuvor nahm Oberbürgermeister Mike Schubert in Berlin auf Einladung des ukrainischen Botschafters Dr. Andrij Melnyk an der Gedenkveranstaltung anlässlich des Tages des Gedenkens und der Versöhnung sowie des 77. Jahrestages der Befreiung Europas vom Nationalsozialismus teil und legte einen Kranz nieder.

Sie finden die auf dem Bassinplatz gehaltene Rede hier im Wortlaut.


- Es gilt das gesprochene Wort -

Sehr geehrter Herr Heuer,
sehr geehrte Landtags- und Stadtverordnete,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Potsdamerinnen und Potsdamer,

nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 schwiegen die Waffen. Endlich. Endlich war der Zweite Weltkrieg in Europa beendet.
Endlich war dem millionenfachen Töten und Morden ein Ende gesetzt. In Asien allerdings tobten die blutigen Kämpfe noch weiter.

Der Weltkrieg, von dem Zweidrittel aller Staaten und Dreiviertel der Weltbevölkerung betroffen waren, dieser Weltkrieg war dann auch erst mit der offiziellen Kapitulationserklärung Japans am 2. September 1945 vorbei.

Vorbei war ein Krieg, der von Deutschland als erbarmungsloser Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug begonnen worden war und die unvorstellbare Zahl von an die 60 Millionen Todesopfer forderte.

Der im Holocaust sechs Millionen europäischen Jüdinnen und Juden das Leben kostete. Vorbei war ein Krieg, der Städte in ganz Europa in Schutt und Asche gelegt hatte.

Vorbei war ein Krieg, der Menschen entwurzelte und zur Flucht zwang und sich in die Körper und Seelen der Überlebenden so tief hatte hineinfressen können, dass er zwar vorbei, aber nicht abgeschlossen war.

Heute erinnern wir an diesen Tag, der in Europa von entscheidender historischer Bedeutung ist. Dieser Tag ist auch den Opfern des Zweiten Weltkrieges gewidmet.

Meine Damen und Herren, wir stehen heute – wie auch in den vergangenen Jahren – am Sowjetischen Ehrenfriedhof, weil hier 208 Soldaten der Roten Armee ihre letzte Ruhestätte gefunden haben – Russen, Ukrainer und Belarussen, die in der Niederschlagung von Nazideutschland gestorben sind.

Der Krieg konnte nur mit Gewalt und in einer Allianz der Mächte gegen Deutschland beendet werden.

Daran erinnern wir heute; und diese Erinnerung an diesem Ort beansprucht ihre große Bedeutung auch angesichts des gegenwärtigen Krieges in der Ukraine.

Das Jahr 1945 markiert einen Epochenwechsel, der unsere Welt wie keine andere historische Wegmarke prägt.
Es entstand eine neue Weltordnung, die, so unvollkommen sie auch war, ein Hauptziel hatte: den Wahnsinn eines erneuten weltumspannenden Krieges zu verhindern.

Ich möchte daran erinnern, dass mit dem Kriegsende eine Vielzahl von internationalen Institutionen entstanden, die diesem Ziel verpflichtet waren und sind:

die Vereinten Nationen, die Weltbank, der Internationale Währungsfonds, der Europarat und schließlich die Montanunion als Keimzelle der heutigen Europäischen Union.

Die Vereinten Nationen als erste wirklich weltumspannende politische Organisation entwickelte einen gemeinsamen Wertekatalog mit der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.

Idealisten und Realisten fanden sich in der Überzeugung zusammen, dass neue internationale Institutionen und Verflechtungen notwendig waren, um die Welt sicherer zu machen, obwohl gleichzeitig ein nie dagewesenes Wettrüsten begonnen hatte.

Am Horizont von 1945 war mit der Atombombe längst eine neue existentielle Gefahr aufgeblitzt, die neue Konflikte heraufbeschwor und zukünftig bestimmen sollte.

Und 1945 wurde das Zeitalter der bipolaren Weltordnung eingeleitet.

Seit 1945 erlebte der europäische Kontinent insgesamt die längste Friedensperiode, die es je gab, freilich zerschnitten durch den eisernen Vorhang, der die Welt in eine freie und eine unfreie teilte.

Das weitere Epochenjahr 1989 ebnete schließlich den Weg für ein gesamteuropäisches Projekt von Frieden, Freiheit und Demokratie. Die Erfahrungen von Krieg verblassten zusehends.

Das Erbe von 1945 ist grundlegend für unser heutiges Leben. Doch die Neuordnung von 1945 war von Anfang an verletzlich. Denn klar ist, dass die damals geschaffenen Institutionen nur so stark sind und sein können, wie der politische Wille der dahinterstehenden Länder.

Das Erbe von 1945 und die Chance von 1989 – das europäische Friedenswerk als historisches Vermächtnis derer, die im Widerstand gegen Diktatur und Unterdrückung standen –
dieses Erbe setzt Russland mit diesem Krieg und einem Rückgriff in der Rhetorik aufs Spiel.

Als freiheitlich-demokratische Gemeinschaft stemmen wir uns mit allen Mitteln gegen diesen Feldzug zur Relativierung unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung.

Eine der wichtigsten Erkenntnisse dabei speist sich ebenfalls aus den Erfahrungen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges: Die Demokratie muss wehrhaft sein, nach innen wie nach außen.

Die Demokratie muss – auch mit Waffen – verteidigt werden.
Meine Damen und Herren, das Erbe von 1945 beinhaltet gleichwohl einen weiteren Auftrag an uns. Wir haben ihn an diesen Ort gebracht:

„Nie wieder Krieg!“. Manchen erscheint dieser pazifistische Ausruf, den Käthe Kollwitz auf ein ikonografisches Plakat gebracht hat, angesichts des aktuellen Krieges in der Ukraine als eine Phrase, fernab von Realpolitik.

Ich entgegne darauf: „Nie wieder Krieg!“ muss die Norm unseres menschlichen Daseins sein, ohne die Welt zu verklären. Auch wenn Europa gegenwärtig von Krieg bestimmt wird, so bleibt Frieden ein so kostbares Gut, das erlangt und erhalten werden muss.
„Kriegsende, Sieg, Hurra! Endlich ist dieser lang ersehnte Tag gekommen. Es fällt mir schwer, meine Gefühle zu beschreiben. Wie viel Schreckliches mussten wir in diesen Jahren ertragen, und jetzt liegt all dies hinter uns!“

Diese Worte schrieb die Kiewer Studentin Nika Gerasimova am 9. Mai 1945 in ihr Tagebuch. Stehen wir alle zusammen und lassen Sie uns all das Mögliche tun, damit die Menschen heute in der Ukraine und wir alle sagen können: Kriegsende. Hurra!

Gedenken wir nun in einer Schweigeminute den Opfern des Krieges, den vergangenen wie den gegenwärtigen.