Text: Horst Sperfeld
Geschichten über Potsdamer Olympioniken: Ein Solist zieht seine Bahn
Potsdamer Olympioniken Teil 4
Tokio 1964
Es war der 22. Oktober 1964. Das Wetter zog die Japaner nicht gerade begeistert zu diesem Wassersportwettbewerb eine gute Stunde weg von Tokio an den Sagami-Bergsee. Der Himmel war verhangen und es nieselte, aber es herrschte fast Windstille. Was den Zuschauern bei den Kanu-Wettbewerben der Sommerspiele der XVIII. Olympiade in Tokio nicht ganz so behagte, empfand Jürgen Eschert aus Potsdam als ideal für sein Vorhaben. Der 22-Jährige hatte schon lange auf so einen Moment gewartet und dafür an sich und seiner Paddel-Technik gearbeitet. Wenn nicht jetzt, wann sollte er dann das von ihm angestrebte und so ehrgeizig vorbereitete perfekte Rennen mit seinem Canadier fahren? Es ist nicht einfach, in einer Art Holzschale zu knien und diese möglichst ohne Geruckel mit nur einem Stechpaddel übers Wasser zu jagen und dabei auch noch geradeaus zu steuern. Eine spiegelglatte Wasseroberfläche und eine dosierte Abkühlung durch Nieselregen erleichtert so ein schweißtreibendes Unterfangen phänomenal. Der aus der Nähe von Magdeburg stammende Eschert nutzte die super Rahmenbedingungen, zog gleichmäßig seine Bahn und ließ den sieben Kontrahenten im olympischen Finale der Einer-Canadier keine Chance. Am Ende der 1000 Meter und etwas mehr als viereinhalb Minuten hatte der Potsdamer Sportsoldat fast zwei Bootslängen zwischen sich und den Zweitplatzierten, den Rumänen Andrej Igorov, gelegt.
Jürgen Eschert, der sich seinerzeit auf dem Templiner See bei Potsdam für seinen großen Auftritt vorbereitet hatte, setzte damals in Tokio Meilensteine. Er ging mit seinem Sieg auf dem Lake Sagami als erster deutscher Olympiasieger im Einer-Canadier in die Geschichte ein. Er wurde der erste Olympiasieger überhaupt, den sich die Stadt Potsdam als eigenen Bürger auf die Adler-Fahne schreiben konnte. Er begründete eine Kanu-Erfolgs-Tradition in seiner Wahl-Heimatstadt, die bis 2012 mit zahlreichen Weltmeistertiteln und weiteren 16 Goldmedaillen bei Olympischen Spielen hochgehalten worden ist. Und der längst in die Jahre gekommene Enthusiast, der noch immer das Stechpaddel durch die Havel zieht, ist seit der politischen Wende 1990 an der ständigen Weiterentwicklung seiner attraktiven Wassersportart in Potsdam maßgeblich beteiligt.
Was sich hier als wunderbare Erfolgsgeschichte liest, lief vor und während der Olympischen Spiele 1964 in Tokio nicht ganz so ideal. Politisch schien die Welt weiter aus den Fugen zu geraten. Gerade erst war die sogenannte Kuba-Krise überstanden, bei der ein neuer, den Globus gefährdender Krieg abgewendet werden konnte. In den USA war Präsident John F. Kennedy ermordet worden. Der Vietnam-Krieg deutete sich an. Kulturell hatten gerade vier Wuschelköpfe namens Beatles aus England mit ihrer Musik und ihrem Auftreten für eine Welt-Revolution gesorgt. Schließlich hatte sich das Fernsehen endgültig durchgesetzt, so dass die Olympischen Spiele von Tokio als die ersten elektronischen Spiele in die Geschichte eingingen.
Im geteilten Deutschland erwies es sich erneut als ein von Querelen begleitetes Problem, eine gemeinsame Olympiamannschaft zu formieren. Im Falle der Kanuten hing der Stress mit der DDR-Flucht eines Sportlers zusammen, den die westdeutsche Sportführung unbedingt bei den mehrmals neu und an anderen Orten angesetzten Ausscheidungsrennen an den Start bringen wollte. Am Ende blieb Jürgen Eschert der einzige Aktive aus der DDR, der sich in diesem nervenaufreibenden Gezerre um die Startplätze in Tokio durchsetzen konnte. Die anderen sechs Boote stellte der bundesdeutscher Verband und gewann damit jeweils einmal Gold, Silber und Bronze, womit Deutschland insgesamt erstmals die erfolgreichste Kanu-Mannschaft bei Olympia stellte.
Insgesamt schickten beide deutsche Staaten 371 Sportler nach Tokio. Diesmal hatte der Osten mit 192 Nominierten den größeren Anteil und durfte deshalb den Chef de Mission stellen. So ganz ohne Einspruch wollte man das auf der West-Seite jedoch nicht hinnehmen, so dass es viele weitere Streitereien gab. Der Gipfel davon war der Knatsch um zwei Einhand-Segler. Durchgesetzt in den Quali-Regatten hatte sich der Ostberliner Bernd Dehmel, der Westen wollte aber unbedingt den weltweit erfahreneren und kurz zuvor zum Europameistertitel gesegelten Finn-Dinghy-Spezialisten Willi Kuhweide vom Verein Seglerhaus am Wannsee starten sehen. Man nahm beide mit nach Tokio und entschied sich erst vor Ort, im olympischen Segelzentrum in Enoshima, für Kuhweide. Das erwies sich als glücklich, denn der Westberliner wurde dann sogar Olympiasieger.
Mit zehn Mal Gold, 22 Mal Silber und 18 Mal Bronze reihte sich das gesamtdeutsche Team auf Rang vier der Nationenwertung hinter den USA, der Sowjetunion und Japan ein. Sieben der zehn Siege eroberten Sportler aus dem Westteil Deutschlands. Neben Jürgen Escherts Goldmedaille holten noch Hürdensprinterin Karin Balzer aus Leipzig und - wie schon 1960 in Rom - Ingrid Krämer aus Dresden das begehrteste Edelmetall für die DDR.
Aus Potsdam waren in Tokio weitere zehn Athleten am Start:
Leichtathletik:
- Wolf-Dieter Holtz - 1500 Meter: 6. Platz im Halbfinale (ausgeschieden)
- Siegfried Valentin - 1500 Meter: 6. Platz im Vorlauf (ausgeschieden)
- Arthur Hannemann - 10000 Meter: Platz 27
- Fred Döring - 3000 Meter Hindernis: 6. Platz im Vorlauf (ausgeschieden)
- Hans-Jürgen Rückborn - Dreisprung: Platz 8
- Dieter Hoffmann - Kugelstoßen: Platz 12
- Hartmut Losch - Diskuswerfen: Platz 11
- Fritz Kühl - Diskuswerfen: Platz 13
Reiten, Military:
- Karl-Heinz Fuhrmann - Mannschaft: Bronze, Einzel: Platz 25
Turnen:
- Peter Weber - Mannschaft: Bronze, Mehrkampf-Einzel: Platz 21
Quelle: Volker Kluge, "Olympische Sommerspiele, Die Chronik", Sportverlag Berlin, "Märkische Volksstimme"