Geschichten über Potsdamer Olympioniken: Ein Boxer auf Wolke sieben

Potsdamer Olympioniken, Folge 5

Text: Horst Sperfeld

Geschichten über Potsdamer Olympioniken: Ein Boxer auf Wolke sieben

Potsdamer Olympioniken, Teil 5

Mexiko 1968

Um Olympische Spiele rankten sich immer wieder Diskussionen über deren Status oder gar deren Daseinsberechtigung. Kann man sich zum friedlichen sportlichen Wettstreit treffen, wenn in der Welt grausame Kriege geführt werden? Darf man gemeinsam feiern und danach wieder den Hass zwischen den Völkern, Religionen und Weltanschauungen regieren lassen? Macht das ganze rituelle Getue einen Sinn, wenn sich daheim die Regierenden und ihr Volk gegenseitig die Köpfe einschlagen? Schaut man sich beim Wettkampf noch ruhig in die Augen, wenn man vorher seine Leistung mit unnatürlichen Mitteln gesteigert hat? Die bekanntesten Stichworte dafür sind der grauenvolle Vietnamkrieg der Amerikaner, Rassenrevolten sowie die Morde am schwarzen Bürgerrechtler Martin Luther King und Senator Edward Kennedy in den USA, der Sechstage-Krieg Israel gegen Ägypten und seine Verbündeten, die blutige Beendigung des Prager Frühlings durch die Sowjetunion, die Studenten-Unruhen in Westdeutschland mit dem Attentat auf Rudi Dutschke, die Guerilla-Kämpfe in Südamerika mit dem charismatischen, aber scheiternden Anführer Che Guevara, und so weiter.

Doch: Olympia machte und macht Sinn, auch wenn die globalen politischen Ereignisse immer wieder auf den sportlichen Treff der Jugend der Welt direkt oder indirekt Einfluss nahmen. Bei den Olympischen Sommerspielen von 1968 in Mexiko prägten sich zum Beispiel die Bilder von der Siegerehrung nach dem 200 Meter-Finale ein. Gold-Gewinner Tommie Smith und der Drittplatzierte John Carlos reckten während der Nationalhymne jeweils eine Faust im schwarzen Handschuh in die Höhe und protestierten damit gegen die Rassendiskriminierung in ihrem Heimatland USA. Beide wurden daraufhin aus dem amerikanischen Team ausgeschlossen und daheim als Nigger und Kommunisten beschimpft. Erst 1984 wurde ihnen ihr Auftritt vergeben und sie daheim in einen symbolischen Kreis großer Olympioniken aufgenommen.

Doch Mexiko mit seiner außergewöhnlichen Höhenlage von mehr als 2000 Metern über dem Meeresspiegel bot auch sportlich Spektakuläres. So katapultierte sich der Amerikaner Robert "Bob" Beamon im Weitsprung auf nicht für möglich gehaltene 8,90 Meter. Sein drahtiger Landsmann Richard Douglas "Dick" Fosbury gewann im Hochsprung mit einem zunächst belächelten, sich später aber weltweit durchsetzenden Rückwärts-Sprung über die Latte. Der heute überall schon in den Schulen geübte Fosbury-Flop war geboren. Und es begann der bis 1976 anhaltende Siegeszug eines gewissen Roland Matthes aus dem beschaulichen Erfurt im Rückenschwimmen.

Potsdamer sorgten in und rund um das Aztekenstadion von Mexiko City zwar nicht für solche Sensationen. Aber sie stellten mit 22 Teilnehmern immerhin ein Zehntel der 226 Sportler umfassenden, ersten selbstständigen Mannschaft der DDR. Das Internationale Olympische Komitee hatte aus der Duldung des Nationalen Komitees der DDR eine faktische Anerkennung gemacht, so dass die Ausscheidungswettkämpfe und -Streitereien zwischen Ost- und Westdeutschland endlich aufhören konnten. Zur Anerkennung unterschiedlicher Hoheitszeichen hatten sich die hohen Herrschaften aber dennoch nicht durchgerungen. So gingen zwar zwei deutsche Teams ins Geschehen, für deren Sieger aber weiterhin die gleiche Fahne - Schwarz-Rot-Gold mit weißen olympischen Ringen - und die gleiche Hymne - "Freude schöner Götterfunken" - intoniert wurde. An den neun Olympiasiegen der DDR-Vertretung waren aus Potsdam delegierte Sportler nicht beteiligt. Dennoch, die Werfer Dieter Hoffmann, Hartmut Losch und Manfred Stolle verpassten vor 100.000 Zuschauern Medaillen ebenso nur knapp wie Zehnkämpfer Achim Kirst und die Sprintstaffel der Männer über 4mal 100 Meter mit Hartmut Schelter und Peter Haase. Immerhin Bronze als Mannschaft gab es für die Turner-Riege, an der Peter Weber, Gerhard Dietrich und Günter Beier beteiligt waren. Bemerkenswert vor allem aus heutiger Sicht, dass Potsdamer Reiter für Furore sorgten. Horst Köhler, Gerhard Brockmüller und Wolfgang Müller kamen als Mannschaft im Dressur-Viereck zu Platz vier, Helmut Hartmann ritt die Military in der Mannschaft und belegte Rang sieben. Schließlich tauchten mit Anita Kobuß und Karin Haftenberger zum ersten Male weibliche Kanuten aus Potsdam in den Protokollen auf. Die beiden jungen Damen vom nur ein paar Jahre existierenden SC Potsdam wurden als Kajak-Duo über 500 Meter großartige Fünfte.

Ein Potsdamer darf hier auf gar keinen Fall fehlen: Manfred Wolke. Mit den großen Leistungszentren seiner Heimatstadt hatte er nichts zu tun, rackerte sich vielmehr zunächst im nicht so feudalen Milieu ab. Sein Trainings-Domizil war lange ein Sandsack und ein Seilquadrat in den dunklen Räumen der Motor-Halle bei der gleichnamigen Betriebssportgemeinschaft des VEB Lokomotivbau "Karl Marx" in Babelsberg, ehe sein Talent als Boxer erkannt und er zusammen mit seinem Trainer Martin Neef zum Armeesportklub nach Berlin mit Sitz in Frankfurt/Oder eingezogen wurde. In Mexiko gelang dem gebürtigen Potsdamer sein Husarenstück mit der Goldmedaille im Weltergewicht. Wolke wurde aber erst richtig zur Legende, als er nach der deutschen Wiedervereinigung das Berufsboxen mit seinen Schützlingen Henry Maske und Axel Schulz zum Magneten für ein millionenfaches Fernseh-Publikum machte.

Die Potsdamer Olympiastarter von 1968:

Boxen:

  • Manfred Wolke - Weltergewicht: Gold (für Frankfurt/Oder)

Leichtathletik:

  • Hartmut Schelter - 100 Meter: Platz 8 im Halbfinale (ausgeschieden), 4mal 100-m-Staffel: Platz 5
  • Peter Haase - 4mal 100 m-Staffel: Platz 5
  • Bernd Dießner - 5000 Meter: Platz 6 im Vorlauf (ausgeschieden)
  • Jürgen Busch - Marathon: Platz 15
  • Wolfgang Müller - 4mal 400 m-Staffel: Platz 4 im Vorlauf (ausgeschieden)
  • Peter Frenkel - 20 km Gehen: Platz 10
  • Dieter Hoffmann - Kugelstoßen: Platz 4
  • Hartmut Losch - Diskuswerfen: Platz 4
  • Günter Schaumburg - Diskuswerfen: Platz 10
  • Helmut Baumann - Hammerwerfen: Platz 8
  • Manfred Stolle - Speerwerfen: Platz 5
  • Joachim Kirst - Zehnkampf: Platz 5
  • Herbert Wessel - Zehnkampf: ausgeschieden

Reiten:

  • Horst Köhler - Dressur, Einzel: Platz 5, Dressur, Mannschaft: Platz 4
  • Gerhard Brückmüller - Dressur, Einzel: Platz 12, Dressur, Mannschaft: Platz 4
  • Wolfgang Müller - Dressur, Einzel: Platz 16, Dressur, Mannschaft: Platz 4
  • Helmut Hartmann - Military, Einzel: Platz 28, Military, Mannschaft: Platz 7

Turnen:

  • Peter Weber - Mehrkampf, Einzel: Platz 26, Mehrkampf, Mannschaft: Bronze
  • Gerhard Dietrich - Mehrkampf, Einzel: Platz 34, Mehrkampf, Mannschaft: Bronze
  • Günter Beier - Mehrkampf, Einzel: Platz 52, Mehrkampf, Mannschaft: Bronze

Kanurennsport:

  • Anita Kobuß - Zweierkajak, 500 Meter: Platz 5
  • Karin Haftenberger - Zweierkajak, 500 Meter: Platz 5

Quelle: Volker Kluge, "Olympische Sommerspiele, Die Chronik", Sportverlag Berlin, "Märkische Volksstimme"