Rede von Oberbürgermeister Mike Schubert anlässlich der Lesung und Diskussion zum Thema „Europa versagt. Eine menschliche Flüchtlingspolitik ist möglich“

Oberbürgermeister Mike Schubert bei der Podiumsdiskussion zur Lesung „Europa versagt“ mit Dr. Malisa Zobel und der Autorin Prof. Gesine Schwan.
© Landeshauptstadt Potsdam / Flavia Abrudan-Markett
Oberbürgermeister Mike Schubert bei der Podiumsdiskussion zur Lesung „Europa versagt“ mit Dr. Malisa Zobel und der Autorin Prof. Gesine Schwan. Foto: Landeshauptstadt Potsdam / Flavia Abrudan-Markett

Oberbürgermeister Mike Schubert hielt heute im Rahmen der Lesung „Europa versagt“ an der Podiumsdiskussion mit der Autorin Prof. Gesine Schwan im Filmmuseum Potsdam eine Rede.

Hier finden Sie die Rede im Wortlaut, es gilt das gesprochene Wort:

Liebe Prof. Gesine Schwan,
liebe Frau Dr. Zobel,
sehr geehrte Damen und Herren,
es ist für mich eine große Freude und Ehre, heute mit Ihnen über das provokante, pragmatische und zugleich emotionale Buch „Europa versagt“ zu sprechen.
Zwölf Thesen, zwölf Lösungsansätze – eine Win-win-Strategie, die zu einem pragmatischen und zugleich emotionalen Perspektivenwechsel der Migrationspolitik führen sollen. So sollen die langfristigen Interessen Europas ins Auge gefasst werden. Das ist für mich die Quintessenz des Buches. Es ist eine Essenz der Arbeit meiner langjährigen Freundin, Gesine Schwan, die ich sehr schätze.

Auch das Engagement von Frau Dr. Zobel habe ich bereits anlässlich der Gründung der Internationalen Allianz in Palermo kennen und schätzen gelernt. Unter ihrer Mitarbeit ist das Buch geschrieben worden. Auch ihr gebührt deshalb Respekt dafür.
Zur Auseinandersetzung mit dem anspruchsvollen Buch, will ich einige Gedankenspiele aufmachen:
Wie wäre es erstens mit einer Koalition williger Staaten, die eine freiwillige Vereinbarung über die Aufnahme von Flüchtlingen abschließen und durch unterschiedliche Anreize motiviert werden, statt immer neue Verpflichtungen aufzuerlegen?

Wie wäre es zweitens mit einer Finanzierung über einen „Europäischen Fonds für Kommunale Integration und Entwicklung“, bei dem die aufnahmewilligen Kommunen die Finanzierung der Integration der Flüchtlinge beantragen können?  

Wie wäre es drittens, wenn dieses Finanzierungsinstrument dennoch keinen Zwiespalt in der Kommune säen würde, denn zusätzlich könnte diese in derselben Höhe eine Finanzierung von Projekten im Interesse der eigenen Bürgerinnen und Bürger der Kommune erhalten?
Gerade in turbulenten Zeiten europäischer Konflikte wäre dies eine Möglichkeit für manche Städte, ihren Projekten unabhängig von ihren undemokratisch-autoritären Regierungen nachzugehen.

Als Antwort auf die bekannten Pushbacks an der Grenze zwischen Belarus und Polen gab es eine mutige, widersprechende Aktion eines Dorfbürgermeisters. Diese löste eine Welle der Hilfsbereitschaft aus. Bewohnerinnen und Bewohner fingen an, grün leuchtende Lampen in ihre Fenster zu stellen. Diese sollen den Geflüchteten zeigen, dass sie dort Hilfe finden. Die Aktion ist symbolträchtig, wie wir sowohl im Zusammenhang mit der Internationalen Allianz der Städte Sicherer Häfen als auch mit der Online-Plattform „Moving Cities“ sehen können.
Hier setzen sich zum Beispiel unter anderem polnische, ungarische oder italienische Städte und Kommunen für eine humane und faire Einwanderungspolitik ein – und vertreten damit zum Teil eine deutlich andere Position als ihre nationalen Regierungen.

Sehr geehrte Damen und Herren,
Wie wäre es viertens denn mit einem Matching-Verfahren, in dem beide Parteien – Geflüchtete und Kommunen – freiwillig und bewusst entscheiden, eine partnerschaftliche Kooperation einzugehen?

„Erst beim Interessenausgleich beginnt wirklich die Politik“ schreibt Gesine Schwan. Wir müssen uns also über die Parameter unseres Interessenausgleichs deutlich im Klaren sein:
Es sind Menschen, nicht Zahlen, die im Mittelmehr ertrinken, an Grenzen verenden oder höchst traumatisiert in Lagern leben müssen. Alleine die Anzahl derer, die im Mittelmeer ertrunken sind, seien Zahlen wie im Krieg, bemerkte zurecht, der Migrationsexperte Gerald Knaus. Es sind Menschen, die aus tiefster Not und Verzweiflung, ihr Leben und das ihrer Kinder riskieren.

So berichtete der Präsident von Ärzte ohne Grenzen, ich zitiere: „Wir haben Fälle von Kindern, die versucht haben, Selbstmord zu begehen. Manche Kinder haben aufgehört zu spielen. Sie haben aufgehört zu reden. Sie können nicht mehr schlafen. Denen wird im Lager ihre Kindheit geraubt.“

Und dann sprechen wir über Städte und Kommunen, in denen diese Menschen ankommen und bleiben wollen. Dafür müssen ihnen auch die Voraussetzungen geschaffen werden: Wohnung, Arbeit, Bildung, Zugang zum Gesundheitssystem.

Es geht darum, humanitäre Beweggründe mit dem Machbaren vor Ort zu kombinieren.
Im deutschen Bündnis „Städte Sichere Häfen“ hatten und haben wir den Anspruch, aktiv zu helfen. Und wir haben den Anspruch, auch würdevolle Bedingungen für die Unterbringung und Integration zu organisieren.

So warf ich für Potsdam damals fünf Plätze für unbegleitete Minderjährige Geflüchtete in die Waagschale. Ausfinanziert und sofort zu belegen. Das geschah in den Tagen, in denen Robert Habeck Zahlen in den Raum warf, die jenseits realistischer Vorstellungen waren. Bis zu 4000 unbegleitete Minderjährige Geflüchtete sollten aufgenommen werden, sagte er. Journalisten fragten mich dann, ob die fünf Potsdamer Plätze nicht viel zu wenig wäre, um wirklich helfen zu können. Es war noch nicht angekommen, dass Potsdam nicht allein war, sondern dass bereits damals mehrere Dutzend Städte Teil unseres Bündnisses waren.
Das Gesamtkontingent aus spontanen freiwilligen Zusagen aus der gesamten Bundesrepublik lag binnen weniger Tagen bei 500 Plätzen zur Aufnahme Geflüchteter aus dem Lager Moria! Wir haben also gesehen, es funktioniert. Wir sind in der Lage, uns zu organisieren.
Und wir hoffen mit der neuen Bundesregierung auf ein konstruktiveres Gespräch mit dem Innenministerium.

Sehr geehrte Damen und Herren,
jetzt stellen Sie sich bitte vor, es kämen fünf Plätze aus jeder willigen Stadt unseres internationalen Bündnisses dazu.

Glücklicherweise gibt es nicht nur den nationalen Egoismus, sondern auch die internationale Solidarität, nicht nur die Macht der Staaten, sondern auch die der Städte.

Deshalb haben wir in einer gemeinsamen Initiative mit der Stadt Palermo sowie anderen europäischen Städten am 25. Juni 2021 die Internationale Allianz der Städte Sicherer Häfen gegründet. Gesine Schwan war ebenfalls dabei.

Die Konferenz, an der unter anderem Bürgermeisterinnen und Bürgermeister aus Frankreich, Griechenland, Italien, Albanien und den Niederlanden teilnahmen, stellt den ersten Schritt im Prozess der Europäisierung des Netzwerks von Städten und Gemeinden dar.
Die Allianz soll für solidarische und pragmatische Lösungen in der Asyl- und Flüchtlingspolitik stehen – und auch in der Integrationspolitik.

In Deutschland und in Europa wird bei der Aufnahme von Geflüchteten sehr viel über Obergrenzen und sehr wenig über die Art der Verteilung vor Ort gesprochen. Das ist in meinen Augen falsch und stellt ein Hindernis dar, zielführende Migrationspolitik zu betreiben.
Aufnahme- und Integrationsmöglichkeiten werden nicht als zusammengehörende Aufgaben verstanden. Das ist ein riesiges Missverständnis!

Kommunen, die freiwillig ihre Aufnahmebereitschaft signalisieren, müssen ernst genommen werden und sie gehören auch mit an den Verhandlungstisch, wenn über Verteilmechanismen gesprochen werden soll.
 
In ganz Europa sind es mehr als 700, wie nun die Online-Plattform „Moving Cities“ preisgibt. So sollte man den europäischen Städten die Gelegenheit geben regelmäßig, demokratisch legitimiert durch ihre Ratsversammlungen, ihre Bereitschaft erklären zu können, Geflüchtete zusätzlich zu den nationalstaatlichen Kontingenten aufzunehmen.
Erlauben Sie mir bitte, hier auf die pragmatische Überlegung von Frau Mogherini zurückzugreifen. Ich zitiere: „Die Migration wird bleiben (…) in einer Welt mit 7 Billionen Menschen, mit steigenden Ungleichheiten, mit dramatisch diversen demografischen Trends, ist Migration die neue Normalität. Doch richtig bewältigt, kann sie viele Möglichkeiten eröffnen. (…) Es ist also nicht etwas, was wir verhindern sollen, sondern etwas was wir handhaben müssen.“ Zitat Ende.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
wenn das so ist, dann müssen wir uns in der Gesellschaft aufeinander zubewegen. Die Frage vom Umgang mit Flucht und Migration hat sich zum Schisma in Europa entwickelt. Tief gespalten sind die europäischen Staaten. Tief gespalten ist die europäische Gesellschaft. Scheinbar unversöhnlich stehen sich zwei Gruppen gegenüber. Auf der einen Seite diejenigen, die Europa zur Festung machen wollen und auf der anderen diejenigen, die meinen, Grenzen wären etwas von gestern.

Wenn wir diese Spaltung negieren oder ignorieren, werden alle Bemühungen scheitern, Europa in der Frage von Migration und Asyl zusammenzubringen. Ich verstehe Gesine Schwans Buch hier als einen Beitrag, will aber beleuchten, weshalb ich glaube, dass es uns gelingen muss, noch stärker das Einende als das Trennende zu suchen. Denn es gibt einen Weg des Miteinanders, der in der europäischen Gesellschaft mehrheitsfähig ist.
Es geht um moralischen Pragmatismus.

Der moralische Pragmatismus, wie ich ihn sehe, kann eine Brücke schlagen, um große Teile unsere Gesellschaft wieder zusammenzubringen. Wir dürfen nicht mit der Vision einer Welt ohne Grenzen an der gesellschaftlichen Realität scheitern. Ich will mir nicht selbst suggerieren, dass es nur einen gerechten Verteilmechanismus braucht, um die Mehrheit der Menschen beim Thema Migration und Flucht hinter meiner eigenen Position zu wissen. Sondern ich erkenne an, dass es Menschen in Europa gibt, für die Grenzen eine Frage der europäischen Souveränität sind und die vom Staat erwarten, dass er diese Grenzen schützt. Erst wenn wir staatliche Handlungsfähigkeit auf beiden Seiten beweisen, gewinnen wir das Heft des Handelns zurück.

Schutz der Außengrenzen und sichere, bekannte und unbürokratisch schnelle Migrations- und Asylwege mit schnellen, einheitlichen Verfahren und anschließendem vernünftigen Verteilmechanismus, welcher auch auf die demokratisch legitimierte Freiwilligkeit der Städte setzt, brauchen wir. Das schafft Vertrauen.

Entschlossenes staatliches Handeln auf der Grundlage unseres Wertekanons ist ein Bollwerk gegen Diktatoren und Despoten, die meinen, Menschen auf der Flucht in Kombination mit Propaganda, als Druckmittel einsetzen zu können. Und starkes staatliches Handeln ist das Bollwerk gegen die populistische Rechte mit ihrem identitären, ethnisch oder sogar rassisch aufgeladenen völkischen Duktus vom Europa der Völker. Dieses Weltbild hat Europa in seiner Geschichte mehrfach ins Verderben geführt. Es hat Millionen Menschen in den Weltkriegen das Leben gekostet und dieser Nationalismus droht Europa erneut zu vergiften.

Das letzte Wochenende in Guben ist nicht das erste, aber ein dramatisches Warnsignal. Wenn paramilitärische Verbände der Rechten anfangen, mitten in Europa Grenzpatrouille zu laufen, dann ist die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie gefragt.

Sehr geehrte Damen und Herren,
ich will, dass wir die Menschen in den europäischen Städten für uns gewinnen, die anderen Menschen helfen wollen und die das Recht auf Asyl zuerst als eine humanitäre Pflicht verstehen. Und dazu müssen wir humanitäre Beweggründe, das Machbare vor Ort und klare staatliche Verfahren miteinander kombinieren.

Ganz im Sinne des Friedensnobelpreisträgers und großen europäischen Brückenbauers Willy Brandt: „Der Kompromiss ist die Seele der Politik.“ Erlauben Sie mir an dieser Stelle zu ergänzen: nur im Dialog finden wir den Kompromiss.

Diesen Kompromiss müssen wir jedoch endlich ausverhandeln.

Ich danke Ihnen!